VORWORT
EIN Korpus der sämtlichen frühmittelalterlichen Elfenbein-
schnitzereien zu besitzen, ist schon seit langem ein Wunsch
der Kunstforscher, die sich mit den vorgotischen Jahrhunderten
beschäftigen. Nicht weil das Elfenbein als besonders reizvolles künst-
lerisches Material das Interesse herausfordert, sondern weil es uns
die meisten, oft die einzigen Zeugnisse der plastischen Kunstübung
aus der Zeit der Karolinger und Ottonen übermitte] that. Die Arbeiten
aus Edelmetall und aus Bronze sind die gesuchtesten Gegenstände
räuberischer Einfälle gewesen, und auch in Friedenszeiten ließ die
Not sie leicht zu Geld umwandeln. Von den kostbaren Buchdeckeln
riß man die goldenen Beschläge herunter, aber die Elfenbein-
platten ließ man sitzen, da das Material nicht zu verwerten war.
Und während die zahlreichen Holzskulpturen verwitterten oder
verbrannten, und die spärlicheren Steinreliefs bei den Neubauten
zugrunde gingen, entzog sich das Elfenbein all diesen Gefahren,
denn es hielt Wasser und Luft stand, wurde durch den Gebrauch
wenig abgenutzt und zerbrach nicht wie Ton oder Glas.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, als Gori seinen Thesaurus
veterum diptychorum herausgab, ist das Interesse für diese Ob-
jekte lebendig geblieben, ein systematisches Sammeln aber begann
erst hundert Jahre später in England, als i853 die Collection
Fejerväry, die einen ungewöhnlichen Reichtum an geschnitzten
Elfenbeinen besaß, im Archäologischen Institut zu London ausge-
stellt wurde. Diese Anregung veranlaßte I. O. Westwood zusam-
men mit Alexander Nesbitt und A. W. Franks, sich von allen Stücken,
deren sie habhaft werden konnten, Abgüsse zu verschaffen und sie
1855 der Arundel Society vorzulegen, zugleich mit einem von Sir
Digby Wyatt abgefaßten Bericht. Durch Verkauf wurden Exem-
plare dieser Abgüsse nach allen Seiten verbreitet, leider nicht,
ohne daß sich auch die Fälscher die plötzlich zugänglichen neuen
Vorbilder zunutze machten. Die Freude am Sammeln wurde
auf weite Kreise ausgedehnt. Es erschienen Kataloge wie der von
F. Pulszky 1856 von der Sammlung Fejerväry, die inzwischen von
I. Mayer gekauft und später dem Museum in Liverpool geschenkt
wurde, wie der vom South Kensington Museum und anderer eng-
lischer Sammlungen von W. Maskell 1872 und im gleichen Jahr
der von G. Schaefer vom Museum in Darmstadt. Das beschrei-
bende Verzeichnis aller im South Kensington Museum zusammen-
gebrachten Gipsabgüsse von Elfenbeinschnitzereien, das West-
wood darauf im Jahre 1876 veröffentlichte und durch seine erstaun-
lich umfangreichen Aufzeichnungen über den Besitz an Originalen
in den Sammlungen verschiedener Länder ergänzte, bildete die
Grundlage für alle weiteren Untersuchungen und ist bisher als
Materialsammlung nicht überholt worden.
Für die kunstgeschichtliche Verarbeitung aber war eine mehr hand-
liche und leichter zugängliche Veröffentlichung der Stücke nötig als
es durch Gipsabgüsse möglich ist. Zwar hat eine Anzahl größerer
Museen die in ihrem Besitz befindlichen Elfenbeine in photographi-
scher Reproduktion in Katalogform herausgegeben*, aber die Über-
sicht über die Slilzusammenhänge wird erst durch ein Zusammen-
fassen des gesamten gleichzeitigen Materials gewonnen. Eine solche
Verödendichung wurde in den 80 er Jahren von Ernst aus'm Weerth,
dem Bearbeiter rheinischer Denkmäler, geplant, doch ist die Publi-
* Berlin, Kaiser Friedrich-Museum. Beschreibung der Bildwerke der christ-
lichen Epochen. Die Elfenbein werke. Bearbeitet von W. Vöge. 1902. ■—
Brüssel, Musees Royaux des Arts Decoratifs et Industrieis. Joseph Destree,
Catalogue des Ivoires, des objets en Nacre etc. 1902. — Rom, Vatikan. R.
Kanzler, Gli avori dei Musei profano e sacro. 1903. — London, British Mu-
seum. O. M. Dalton, Catalogue of the Ivory Carvings of the Christian Era.
I909-
kation, für die bereits eine große Anzahl von Tafeln fertiggestellt
war, unvollendet liegen geblieben. Das Werk, das vor allem die alt-
christlichen Stücke in Angriff genommen hatte, mit dem bereits
vorhandenen Material wieder aufzunehmen, erwies sich als unan-
gebracht, da die meisten Tafeln auf Grund von Zeichnungen und
lithographischer Wiedergabe hergestellt waren, während die Pho-
tographie hier allein am Platze ist. In seiner Abhandlung über
merowingische und karolingische Plastik 1892 brachte Paul Clemen
den Wunsch vor, daß ein „Konsortium von jüngeren Kunsthisto-
rikern" die Arbeit gemeinsam übernehmen möchte, und bald dar-
auf wurde bei einer Zusammenkunft von Josef Strzygowski, Paul
Weber und dem Herausgeber in Berlin beschlossen, gemeinsam
mit andern zunächst einen über Westwood hinausgehenden exak-
ten Zettelkatalog alles vorhandenen vorgotischen Materials zusam-
menzustellen. Auch dies Unternehmen blieb in den Anfängen
stecken. Doch wurde der Plan von Hans Graeven aufgegriffen, der
den Wünschen der Forscher am besten entgegenzukommen glaubte,
dadurch, daß er in zwangloser Weise das Material, je nachdem es
ihm zugänglich wurde, photographierte und in den Handel brachte.
Auf diese Weise erschienen in zwei Serien Stücke aus England
und aus Italien in gleichmäßigem kleinem Format, und in der Tat
hat Graeven schon durch diesen Anfang der Forschung einen sehr
großen Dienst geleistet. Auch die Aufnahme der deutschen Samm-
lungen wurde von ihm begonnen, doch hat ein früher Tod ihn an der
Weiterführung gehindert. Dem unbeirrt im Interesse für die Wis-
senschaft arbeitenden, das Leben lang mit seinem Körper und mit
dem Schicksal kämpfenden Manne muß an dieser Stelle ein Wort
warmen Dankes ins Grab nachgerufen werden. Die Beschäftigung
mit der frühen mittelalterlichen Kunst war bei ihm nur ein Aus-
läufer seiner antiken Studien, aber die philologische Methode, die
er aus der klassischen Archäologie mitbrachte, führte ihn auch in
diesem neuen Zweige schnell zu wichtigen Resultaten. Seine Mit-
wirkung an dem vorliegenden Werke wäre sicherlich eine un-
schätzbare Förderung gewesen, so müssen wir uns mit dem Nach-
laß seiner Aufnahmen begnügen, die, im Besitze des Archäologischen
Instituts in Göttingen, dem Deutschen Verein für Kunstwissenschaft
in dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt wurden. Viele von
ihnen konnten für die Publikation verwertet werden, besonders
solche von Stücken deutscher Sammlungen, die bei ihrer ausge-
zeichneten Schärfe auch die Vergrößerung zum Originalformat zu-
ließen und in der Art der Beleuchtung über alles das hinausgingen,
was die Photographen vom Fach, von ganz vereinzelten Ausnahmen
abgesehen, zustande brachten. Aber selbst wenn Graeven sein
Werk hätte fortsetzen können, wäre es doch in dieser Form erst
die Vorbereitung für eine kritische Zusammenstellung gewesen,
denn er verzichtete auf alle stilistischen Bemerkungen und bot eben
nur die Objekte selbst dar.
Der 1 go8 begründete Deutsche Verein für Kunstwissenschaft stellte
es unter seine ersten Aufgaben, eine kritisch geordnete photogra-
phische Wiedergabe sämtlicher vorhandenen frühmittelalterlichen
Elfenbeinskulpturen zu veröffentlichen und zwar möglichst in
Originalgröße. Nur durch die Beihilfe von Mitteln, wie sie eine
solche für wissenschaftliche Zwecke eintretende Gesellschaft zur
Verfügung stellte, war es möglich, eine Publikation in die Wege
zu leiten, die ein Verleger für sich allein schwerlich in Angriff
genommen hätte. Der Dank wird in der Aufklärung zu suchen
sein, die daraus über die Entwicklung der frühen deutschen Kunst
zu gewinnen sein wird, deren Darstellung sich noch allzusehr auf
der Kenntnis vereinzelter Stücke aufbaut und daher reich an Irr-
tümern ist.
EIN Korpus der sämtlichen frühmittelalterlichen Elfenbein-
schnitzereien zu besitzen, ist schon seit langem ein Wunsch
der Kunstforscher, die sich mit den vorgotischen Jahrhunderten
beschäftigen. Nicht weil das Elfenbein als besonders reizvolles künst-
lerisches Material das Interesse herausfordert, sondern weil es uns
die meisten, oft die einzigen Zeugnisse der plastischen Kunstübung
aus der Zeit der Karolinger und Ottonen übermitte] that. Die Arbeiten
aus Edelmetall und aus Bronze sind die gesuchtesten Gegenstände
räuberischer Einfälle gewesen, und auch in Friedenszeiten ließ die
Not sie leicht zu Geld umwandeln. Von den kostbaren Buchdeckeln
riß man die goldenen Beschläge herunter, aber die Elfenbein-
platten ließ man sitzen, da das Material nicht zu verwerten war.
Und während die zahlreichen Holzskulpturen verwitterten oder
verbrannten, und die spärlicheren Steinreliefs bei den Neubauten
zugrunde gingen, entzog sich das Elfenbein all diesen Gefahren,
denn es hielt Wasser und Luft stand, wurde durch den Gebrauch
wenig abgenutzt und zerbrach nicht wie Ton oder Glas.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, als Gori seinen Thesaurus
veterum diptychorum herausgab, ist das Interesse für diese Ob-
jekte lebendig geblieben, ein systematisches Sammeln aber begann
erst hundert Jahre später in England, als i853 die Collection
Fejerväry, die einen ungewöhnlichen Reichtum an geschnitzten
Elfenbeinen besaß, im Archäologischen Institut zu London ausge-
stellt wurde. Diese Anregung veranlaßte I. O. Westwood zusam-
men mit Alexander Nesbitt und A. W. Franks, sich von allen Stücken,
deren sie habhaft werden konnten, Abgüsse zu verschaffen und sie
1855 der Arundel Society vorzulegen, zugleich mit einem von Sir
Digby Wyatt abgefaßten Bericht. Durch Verkauf wurden Exem-
plare dieser Abgüsse nach allen Seiten verbreitet, leider nicht,
ohne daß sich auch die Fälscher die plötzlich zugänglichen neuen
Vorbilder zunutze machten. Die Freude am Sammeln wurde
auf weite Kreise ausgedehnt. Es erschienen Kataloge wie der von
F. Pulszky 1856 von der Sammlung Fejerväry, die inzwischen von
I. Mayer gekauft und später dem Museum in Liverpool geschenkt
wurde, wie der vom South Kensington Museum und anderer eng-
lischer Sammlungen von W. Maskell 1872 und im gleichen Jahr
der von G. Schaefer vom Museum in Darmstadt. Das beschrei-
bende Verzeichnis aller im South Kensington Museum zusammen-
gebrachten Gipsabgüsse von Elfenbeinschnitzereien, das West-
wood darauf im Jahre 1876 veröffentlichte und durch seine erstaun-
lich umfangreichen Aufzeichnungen über den Besitz an Originalen
in den Sammlungen verschiedener Länder ergänzte, bildete die
Grundlage für alle weiteren Untersuchungen und ist bisher als
Materialsammlung nicht überholt worden.
Für die kunstgeschichtliche Verarbeitung aber war eine mehr hand-
liche und leichter zugängliche Veröffentlichung der Stücke nötig als
es durch Gipsabgüsse möglich ist. Zwar hat eine Anzahl größerer
Museen die in ihrem Besitz befindlichen Elfenbeine in photographi-
scher Reproduktion in Katalogform herausgegeben*, aber die Über-
sicht über die Slilzusammenhänge wird erst durch ein Zusammen-
fassen des gesamten gleichzeitigen Materials gewonnen. Eine solche
Verödendichung wurde in den 80 er Jahren von Ernst aus'm Weerth,
dem Bearbeiter rheinischer Denkmäler, geplant, doch ist die Publi-
* Berlin, Kaiser Friedrich-Museum. Beschreibung der Bildwerke der christ-
lichen Epochen. Die Elfenbein werke. Bearbeitet von W. Vöge. 1902. ■—
Brüssel, Musees Royaux des Arts Decoratifs et Industrieis. Joseph Destree,
Catalogue des Ivoires, des objets en Nacre etc. 1902. — Rom, Vatikan. R.
Kanzler, Gli avori dei Musei profano e sacro. 1903. — London, British Mu-
seum. O. M. Dalton, Catalogue of the Ivory Carvings of the Christian Era.
I909-
kation, für die bereits eine große Anzahl von Tafeln fertiggestellt
war, unvollendet liegen geblieben. Das Werk, das vor allem die alt-
christlichen Stücke in Angriff genommen hatte, mit dem bereits
vorhandenen Material wieder aufzunehmen, erwies sich als unan-
gebracht, da die meisten Tafeln auf Grund von Zeichnungen und
lithographischer Wiedergabe hergestellt waren, während die Pho-
tographie hier allein am Platze ist. In seiner Abhandlung über
merowingische und karolingische Plastik 1892 brachte Paul Clemen
den Wunsch vor, daß ein „Konsortium von jüngeren Kunsthisto-
rikern" die Arbeit gemeinsam übernehmen möchte, und bald dar-
auf wurde bei einer Zusammenkunft von Josef Strzygowski, Paul
Weber und dem Herausgeber in Berlin beschlossen, gemeinsam
mit andern zunächst einen über Westwood hinausgehenden exak-
ten Zettelkatalog alles vorhandenen vorgotischen Materials zusam-
menzustellen. Auch dies Unternehmen blieb in den Anfängen
stecken. Doch wurde der Plan von Hans Graeven aufgegriffen, der
den Wünschen der Forscher am besten entgegenzukommen glaubte,
dadurch, daß er in zwangloser Weise das Material, je nachdem es
ihm zugänglich wurde, photographierte und in den Handel brachte.
Auf diese Weise erschienen in zwei Serien Stücke aus England
und aus Italien in gleichmäßigem kleinem Format, und in der Tat
hat Graeven schon durch diesen Anfang der Forschung einen sehr
großen Dienst geleistet. Auch die Aufnahme der deutschen Samm-
lungen wurde von ihm begonnen, doch hat ein früher Tod ihn an der
Weiterführung gehindert. Dem unbeirrt im Interesse für die Wis-
senschaft arbeitenden, das Leben lang mit seinem Körper und mit
dem Schicksal kämpfenden Manne muß an dieser Stelle ein Wort
warmen Dankes ins Grab nachgerufen werden. Die Beschäftigung
mit der frühen mittelalterlichen Kunst war bei ihm nur ein Aus-
läufer seiner antiken Studien, aber die philologische Methode, die
er aus der klassischen Archäologie mitbrachte, führte ihn auch in
diesem neuen Zweige schnell zu wichtigen Resultaten. Seine Mit-
wirkung an dem vorliegenden Werke wäre sicherlich eine un-
schätzbare Förderung gewesen, so müssen wir uns mit dem Nach-
laß seiner Aufnahmen begnügen, die, im Besitze des Archäologischen
Instituts in Göttingen, dem Deutschen Verein für Kunstwissenschaft
in dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt wurden. Viele von
ihnen konnten für die Publikation verwertet werden, besonders
solche von Stücken deutscher Sammlungen, die bei ihrer ausge-
zeichneten Schärfe auch die Vergrößerung zum Originalformat zu-
ließen und in der Art der Beleuchtung über alles das hinausgingen,
was die Photographen vom Fach, von ganz vereinzelten Ausnahmen
abgesehen, zustande brachten. Aber selbst wenn Graeven sein
Werk hätte fortsetzen können, wäre es doch in dieser Form erst
die Vorbereitung für eine kritische Zusammenstellung gewesen,
denn er verzichtete auf alle stilistischen Bemerkungen und bot eben
nur die Objekte selbst dar.
Der 1 go8 begründete Deutsche Verein für Kunstwissenschaft stellte
es unter seine ersten Aufgaben, eine kritisch geordnete photogra-
phische Wiedergabe sämtlicher vorhandenen frühmittelalterlichen
Elfenbeinskulpturen zu veröffentlichen und zwar möglichst in
Originalgröße. Nur durch die Beihilfe von Mitteln, wie sie eine
solche für wissenschaftliche Zwecke eintretende Gesellschaft zur
Verfügung stellte, war es möglich, eine Publikation in die Wege
zu leiten, die ein Verleger für sich allein schwerlich in Angriff
genommen hätte. Der Dank wird in der Aufklärung zu suchen
sein, die daraus über die Entwicklung der frühen deutschen Kunst
zu gewinnen sein wird, deren Darstellung sich noch allzusehr auf
der Kenntnis vereinzelter Stücke aufbaut und daher reich an Irr-
tümern ist.