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ELIE FAURES INDIVIDUALISMUS AUS DEM
GEISTE DER ROMANTIK

An dem großen Empfangsabend in einem Pariser Salon wurde ich
/ \ durch befrackte Herren und elegante Damen zu einem Sonder-
Xling geführt, den bereits alle kannten und den niemand als voll
nahm, obwohl er in viele Gesellschaften als „un charme de plus de la
France“ gebeten wurde. Eine untersetzte Gestalt, zottiger, grau me-
lierter Vollbart, eine Samtmütze auf dem Kopf, unter der weiße, un-
gepflegte Haare kraus hervorschauten. Wenn der Bart auch allerlei
verdeckte, so erkannte man doch den offenen Hals, den kein Kragen
verhüllte. Das dicke Jägerhemd war auf der Brust nicht verschlossen
und ebenso standen verschiedene Knöpfe der Weste offen. Als ich
dem alten Herrn vorgestellt war und er hörte, daß ich Deutscher
sei, rezitierte er sogleich: „Muß i denn, muß i denn zum Städtele
hinaus“, darauf die Lorelei und endlich einige derbe Brocken aus
Luthers Tischreden. Nach jedem Zitat fragte er nachdrücklich: „Kann
ich Deutsch?“ was ich natürlich bejahte. Als ihm der Atem aus-
gegangen war, sagte neben ihm eine der schlanken, hübschen Töchter
schmucklos und direkt: ,, J’aime l’Allemagne beaucoup.“ ,, Moi aussi “,
flötete die Zweite. Beide trugen schlichte, einfarbige Reformkleider,
keine Ringe, keine Perlenketten. Plötzlich war der Alte wieder zu
Atem gekommen, suchte an meinem Smoking vergeblich Knöpfe,
um mich schütteln zu können, packte mich schließlich am Arm und
schrie mir, nicht ohne Sprühregen, ins Gesicht: „Kennen Sie Calvin?“
Nun begann er lateinisch aus der „Institutio religionis christianae“
zu rezitieren und darauf mit leuchtenden Augen von Luther, Calvin
und Zwingli zu reden. Als ihm wieder die Kehle trocken geworden
war, fragte die ältere der beiden Töchter, um die sich keiner der
befrackten Franzosen kümmerte: „Avez vous des livres allemands?“
Am nächsten Tag kamen beide junge Damen — ohne Begleitung,
was im doktrinären Frankreich schlimmer als ein Fehltritt ist — zu
mir, um meine Bücher durchzusehen und sich einige zu entleihen.

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