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SCHWÄRMEREI

Bäume wie Korallen und Safran in zackigen Linien sich abzeichneten —
Hymnen, Hymnen überall.“ „Stell’ dir vor“, schreibt dieser Held
drei Tage vor seinem Tode, „daß wir während unseres letzten Aufent-
haltes in der Feuerlinie die Tage in den Unterständen verbringen
mußten, die wir, gezwungen durch die grauenhafte Beschießung, bis
zu einer Tiefe von ungefähr zehn Metern in die Hügelabhänge graben.
Dort erwartet man in völliger Dunkelheit die Nacht zum Aufbruch.
Plötzlich haben wir, meine Kameraden, die Unteroffiziere und ich,
den Schauer der Neunten Sinfonie von Beethoven in uns erweckt.
Eine unaussprechliche Begeisterung beseelte uns. Die Musik wirkte
wie ein Feuerwerk in diesem Keller. Unsere chinesische Folter,
weder sitzen noch stehen, noch liegen zu können, war vergessen.“
Chevrillon bemerkt in der Einleitung des Buches mit Recht:
„Herzensgüte, inbrünstige Verehrung der Natur, mystisches Verstehen
ihrer Erscheinungsformen und ihrer ewigen Sprache, das ist es, was
die Deutschen, die sich die Erben Beethovens und Goethes nennen,
allein zu besitzen glauben, und was uns in diesen, von einem jungen
Franzosen für seine Teuersten und für sich geschriebenen Briefen er-
greift.“
An unsere Romantiker erinnert der Frühverstorbene in seiner
Zärtlichkeit für die ganze Natur: „Ich lebe nur durch den Gedanken
an Dich“, schreibt er als zärtlicher Sohn, „und in der Güte der Natur.
Diesen Morgen haben unsere Vorgesetzten mit einem Marsche von
zwanzig Kilometern gedroht und die Drohung ist zur Tat geworden
als ein reizender Spaziergang in der Landschaft, die ich so innig liebe.
Ein entzückend feiner Dunst, den wir von Stunde zu Stunde
steigen sehen, der Lockung einer mäßig warmen Sonne folgend; und
dort Hügelketten, die ein ausgedehntes Landschaftsbild beherrschen,
in welches alles in feinen Linien sich einzeichnet oder im Nebel an-
gedeutet ist.
Man sieht Hügel mit kahlen Bäumen, die liebliche Umrisse zeigen.
Ich denke an die alten Maler, an ihre zartempfundenen und gewissen-
haften Landschaftsbilder. Welche peinlich durchgeführte Majestät, deren
erster Anblick durch die Größe der Auffassung Bewunderung einflößt
und deren Einzelheiten tief bewegen!
Du siehst, liebe Mutter, wie Gottes Gnade uns Gaben austeilt,
weit über die Beschwerden, die wir auf uns nehmen.
Es ist nicht einmal die Rede mehr von Geduld, da die Zeit für
uns kein Maß mehr hat, da von keiner meßbaren Dauer mehr die
6 Grautoff, Frankreich 81
 
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