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VERZÜCKUNG

mein Herz; die Natur macht Fahnen aus dem ersten Besten. Sie
sind schöner als diejenigen, an die unsere kleinen Gewohnheiten sich
anklammern. Fahnen der Wissenschaft, Fahnen der Kunst, welche
Flocke in der Luft käme euch nicht gleich? Und immer wird es
Augen geben, um die Lehren des Himmels und der Erde aufzunehmen.“
Ich habe absichtlich viel zitiert, um die Verzückung dieser reinen
Seele ohne Umschreibungen durch sich selbst wirken zu lassen,
um dem Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, einmal Gelegenheit
zu geben, in vollen Zügen die Zartheit, die Wärme, die Güte, die
Weisheit, die unübersehbare Spannweite eines jungen Franzosen zu
trinken, der außerhalb aller politischen und politisierenden Kämpfe
stand. Hier haben wir Romantik in ihrer reinsten Schönheit. Rauschte
sie in Rosseau als pathetische Wortkaskaden, schwälte sie in der
Dichtergeneration der Baudelaire und Mallarme in Weihrauchwolken
durch das Tagesgetriebe, so hebt sie sich hier, tauben-, adlergleich
über Kampf und Leben empor, läßt jeden Gedanken an eine rationale,
in Gesetzen erstarrte, auf nationale Beschränkung pochende Welt —
scheinbar — vergessen. Und dennoch müssen wir nachfühlen — ge-
stehen wir es auch nur mit Schmerz und Neid des Deutschen —, müssen
aus jeder Zeile erlauschen, daß diese gereinigte französische Romantik
sich aus höchster Höhe hinabneigt in den tiefsten Wurzelgrund des
Mutterbodens, daß die Fahne, die jener herrliche Soldat trägt und
weitergibt, nicht die der internationalen Verbrüderung, der milden
Freiheit für Alle, der Gleichheit unter Gottes Sonne ist, sondern die
Fahne seines Landes, die Fahne von Frankreichs Ruhm, die Fahne
des Imperium romanum, die heute wieder das Zeichen der Knecht-
schaft über den Barbaren werden soll.

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