MICHELANGELO UND SAVONAROLA
1494—1496
[3,1—5]
Seit der Ermordung Giulianos war die alte frohe Stimmung, welche sonst am mediceischen Florenz
Hofe herrschte, nicht zurückgekehrt. Einstweilen verdunkelten die Wolken die Sonne noch
nicht, aber die Wolken zogen auf, das fühlte man. Zwei Dinge verstanden sich von selbst,
wenn die Lage des Staates in Betracht kam: erstens, je mehr Lorenzo in eine fürstliche Stellung
durch die bloße Gewalt der Umstände hineingedrängt wurde, um so mehr mußte der ihm eben-
bürtige Adel fürchten, in Abhängigkeit zu geraten, die Strozzi, Soderini, Capponi und eine
ganze Reihe der mächtigsten Familien; zweitens: Lorenzo selbst, je mehr ihm Widerstand von
dieser Seite als etwas Natürliches erschien, das sicher zu erwarten war, um so geschickter
mußte er den Anschein zu wahren suchen, als habe er dergleichen ganz und gar nicht im Sinne,
um so fester mußte er das Volk auf seiner Seite halten. Daher diese fortwährenden öffentlichen
Lustbarkeiten, diese Leutseligkeit dabei. Es könnte fast darüber gestritten werden, ob es in
seiner Absicht gelegen habe, sich zum absoluten Herrn der Stadt zu machen. Man weiß, wie
er seinem Sohne eindringlich empfahl, niemals zu vergessen, daß er nichts als der erste Bürger
der Stadt sei. Aber angenommen wirklich, Lorenzo habe die Gefahren erkannt, die eine äußer-
liche Erhöhung seiner Familie in den Fürstenstand mit sich brachte, und den Moment hinaus-
schieben wollen, in dem es so weit kam — daß es einmal so weit kommen mußte, war ihm und
jedermann, der die Verhältnisse näher kannte, offenbar: die finanziellen Angelegenheiten
zwangen die Medici, die Gelder des Staates zum Vorteil ihrer eigenen Pläne in Anspruch
zu nehmen. Das mußte zur Tyrannei führen.
Hier also drohte ein Zusammenstoß. Die Florentiner waren zu gute Kaufleute, um das Savonarola
Exempel nicht selbst zu stellen und in Gedanken zu Ende zu rechnen. Allein es waren doch
nur erst Wege, die zur Gefahr führen konnten, es hätte erst der Männer bedurft, die den
Kampf herbeizwangen und leiteten. Die tägliche Stimmung des Publikums litt unter diesen
Möglichkeiten noch nicht. Dagegen erhob sich eine andere Macht in der Stadt, die gefährlicher
und erschütternder wirken sollte, und hier war auch ein Mann vorhanden, der eine mächtige
Natur mit sich brachte, um das ins Werk zu setzen, was in seinem Geiste als Gedanken zuerst
entstanden war. Dieser Mann ist Girolamo Savonarola, sein Gedanke: totale Reform in po-
litischer und sittlicher Beziehung.
Man könnte diesen zart gebauten, einsamen, nur auf sich selbst beruhenden, wie aus eisernen
Fäden gewebten Charakter eine fleischgewordene Idee nennen, denn der Wille, der ihn be-
seelte, vorwärts trieb und aufrecht hielt, ist so rein aus jeder seiner Handlungen zu erkennen,
daß die Erscheinung der wunderbaren, aber einseitigen Kraft etwas Schauerliches an sich hat.
Wir Menschen leben in einer gewissen Unklarheit, deren wir bedürftig sind; Dumpfheit
nennt es Goethe bei sich selber; die vergehende Zeit beraubt uns um Gedanken, die kommende
führt uns neue zu: wir vermögen jene weder zu halten noch dieser uns zu erwehren.
Savonarolas leitende Idee war die Lehre vom Strafgerichte, das unverzüglich über das ver- Savonarolas
derbte Italien hereinbrechen werde, um dann aber um so höhere Blüte des Vaterlandes eintreten leite"de
zu lassen. Die Welt schien ihm der Katastrophe mit großen Schritten entgegenzueilen. Sa-
vonarola sah die heidnische Wirtschaft allüberall, den Papst und die Kardinäle tonangebend
an der Spitze. Die Strafe dieser Greuel konnte nicht länger auf sich warten lassen, das Maß
war voll. So dachte er. Und wohin er blickte, bestätigte das was geschah dies Gefühl, das in
seinem Herzen nach Worten suchte.
2 Grimm, Michelangelo
17
1494—1496
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Seit der Ermordung Giulianos war die alte frohe Stimmung, welche sonst am mediceischen Florenz
Hofe herrschte, nicht zurückgekehrt. Einstweilen verdunkelten die Wolken die Sonne noch
nicht, aber die Wolken zogen auf, das fühlte man. Zwei Dinge verstanden sich von selbst,
wenn die Lage des Staates in Betracht kam: erstens, je mehr Lorenzo in eine fürstliche Stellung
durch die bloße Gewalt der Umstände hineingedrängt wurde, um so mehr mußte der ihm eben-
bürtige Adel fürchten, in Abhängigkeit zu geraten, die Strozzi, Soderini, Capponi und eine
ganze Reihe der mächtigsten Familien; zweitens: Lorenzo selbst, je mehr ihm Widerstand von
dieser Seite als etwas Natürliches erschien, das sicher zu erwarten war, um so geschickter
mußte er den Anschein zu wahren suchen, als habe er dergleichen ganz und gar nicht im Sinne,
um so fester mußte er das Volk auf seiner Seite halten. Daher diese fortwährenden öffentlichen
Lustbarkeiten, diese Leutseligkeit dabei. Es könnte fast darüber gestritten werden, ob es in
seiner Absicht gelegen habe, sich zum absoluten Herrn der Stadt zu machen. Man weiß, wie
er seinem Sohne eindringlich empfahl, niemals zu vergessen, daß er nichts als der erste Bürger
der Stadt sei. Aber angenommen wirklich, Lorenzo habe die Gefahren erkannt, die eine äußer-
liche Erhöhung seiner Familie in den Fürstenstand mit sich brachte, und den Moment hinaus-
schieben wollen, in dem es so weit kam — daß es einmal so weit kommen mußte, war ihm und
jedermann, der die Verhältnisse näher kannte, offenbar: die finanziellen Angelegenheiten
zwangen die Medici, die Gelder des Staates zum Vorteil ihrer eigenen Pläne in Anspruch
zu nehmen. Das mußte zur Tyrannei führen.
Hier also drohte ein Zusammenstoß. Die Florentiner waren zu gute Kaufleute, um das Savonarola
Exempel nicht selbst zu stellen und in Gedanken zu Ende zu rechnen. Allein es waren doch
nur erst Wege, die zur Gefahr führen konnten, es hätte erst der Männer bedurft, die den
Kampf herbeizwangen und leiteten. Die tägliche Stimmung des Publikums litt unter diesen
Möglichkeiten noch nicht. Dagegen erhob sich eine andere Macht in der Stadt, die gefährlicher
und erschütternder wirken sollte, und hier war auch ein Mann vorhanden, der eine mächtige
Natur mit sich brachte, um das ins Werk zu setzen, was in seinem Geiste als Gedanken zuerst
entstanden war. Dieser Mann ist Girolamo Savonarola, sein Gedanke: totale Reform in po-
litischer und sittlicher Beziehung.
Man könnte diesen zart gebauten, einsamen, nur auf sich selbst beruhenden, wie aus eisernen
Fäden gewebten Charakter eine fleischgewordene Idee nennen, denn der Wille, der ihn be-
seelte, vorwärts trieb und aufrecht hielt, ist so rein aus jeder seiner Handlungen zu erkennen,
daß die Erscheinung der wunderbaren, aber einseitigen Kraft etwas Schauerliches an sich hat.
Wir Menschen leben in einer gewissen Unklarheit, deren wir bedürftig sind; Dumpfheit
nennt es Goethe bei sich selber; die vergehende Zeit beraubt uns um Gedanken, die kommende
führt uns neue zu: wir vermögen jene weder zu halten noch dieser uns zu erwehren.
Savonarolas leitende Idee war die Lehre vom Strafgerichte, das unverzüglich über das ver- Savonarolas
derbte Italien hereinbrechen werde, um dann aber um so höhere Blüte des Vaterlandes eintreten leite"de
zu lassen. Die Welt schien ihm der Katastrophe mit großen Schritten entgegenzueilen. Sa-
vonarola sah die heidnische Wirtschaft allüberall, den Papst und die Kardinäle tonangebend
an der Spitze. Die Strafe dieser Greuel konnte nicht länger auf sich warten lassen, das Maß
war voll. So dachte er. Und wohin er blickte, bestätigte das was geschah dies Gefühl, das in
seinem Herzen nach Worten suchte.
2 Grimm, Michelangelo
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