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Grimm, Herman
Michelangelo: sein Leben in Geschichte und Kultur seiner Zeit, der Blütezeit der Kunst in Florenz und Rom — Berlin: Safari-Verlag, 1941

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https://doi.org/10.11588/diglit.71912#0098
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RAFFAEL UND DIE SIXTINISCHE KAPELLE
Der Deckenmalerei Zweiter Teil 1510 —1 512
[8, 1—5]
Michelangelo Wer darauf besteht, die beiden großen Künstler als zänkische Widersacher zu denken,
und Raffael der könnte das wenige, was uns von ihrem persönlichen Verhalten gegeneinander aufbewahrt
worden ist, in diesem Sinne allenfalls zurechtlegen. Solche Folgerungen aber bleiben unrichtig
in sich. Wir sehen Raffael und Michelangelo freilich zu Parteihäuptern gemacht. Raffael
erscheint von Anfang an als befangen: er hatte Leute um sich, die gegen Michelangelo hetzten;
und bei diesem selbst entdecken wir nichts von entgegenkommendem Wesen: er stieß ab, was
ihm nicht zusagte. Seine Anhänger und die Raffaels bekämpften sich. Keine Spur aber, daß
die beiden Meister die Rollen wirklich angenommen hatten, die ihnen so von den Ihrigen
aufgedrängt wurden. Was man in dieser Hinsicht anders zu deuten suchte, ist falsch gedeutet,
weil es gegen ein Naturgesetz verstößt, das keinen Widerspruch duldet.
Raffael jagte dem Ruhme Michelangelos nach, wie dieser eben erst Leonardos Größe zu
überbieten getrachtet. Raffael malte in den Zimmern des Vatikans, wenige Schritte entfernt
von der Kapelle, in der Michelangelos Gerüste standen. Sie müssen sich oft begegnet sein
im Palaste, durch den der Weg zur Kapelle führte; wie blickten sie einander in die Augen?
In Michelangelos Äußerung, die er lange nach dem Tode Raffaels getan: was Raffael in
Sachen der Architektur gewußt, habe er von ihm gelernt, liegt nichts Herabsetzendes. Cor-
neille konnte dasselbe von Racine sagen, der soviel jünger war, ohne ihn in seiner Größe zu
verringern, Goethe sich so über Schiller aussprechen. Wo Leute wie Michelangelo, Corneille
und Goethe vorangegangen sind, da muß alles, was jünger ist, in ihre Fußtapfen treten, auch
das ist ein Naturgesetz, so sicher wirkend als wenn es sich um chemische Verwandtschaften
handelte. Viel wichtiger ist Michelangelos Wort: Raffael sei nicht durch sein Genie, sondern
durch seinen Fleiß so weit gekommen als er kam. Es erscheint als die höchste Anerkennung
aus seinem Munde.
Michelangelo stand allein in Rom, als er die Sixtina malte. Er hatte nur den Papst als Partei
hinter sich: um Raffael und Bramante scharten sich die Künstler. Michelangelo war nicht
mehr ganz jung, finster, scharf, mit unerbittlicher Strenge das Echte vom Unechten sondernd;
Raffael im Beginn der Zwanzig, liebenswürdig, heiter, hilfreich und mit dem Zauber sieg-
reicher Überlegenheit umgeben, von der Liebe erweckt wird, und die neidlos selber den Neid
der anderen in Zuneigung auflöst.
Raffael hatte einen Vorzug, den vielleicht kein anderer Künstler in solchem Grade besessen
hat: seine Werke entsprechen dem Durchschnittsmaße des menschlichen Geistes. Sie stehen
keine Linie darüber noch darunter. Michelangelos Ideale gehören einer höheren stärkeren
Generation an, als hätte er Halbgötter im Geiste beherbergt, wie auch Schillers poetische Ge-
stalten in anderer Weise oft das Maß des Gemeinmenschlichen überschreiten; Raffael aber
traf das Richtige wie Shakespeare. Er scheint zu schaffen wie die Natur schafft. Keine Wolken-
paläste, in denen man sich zu klein dünkt, sondern menschliche Wohnungen errichtet er, durch
deren Türen man eingeht und fühlt, daß man da zu Hause sei. Er ist verständlich in jeder Be-
wegung, er schmiegt sich dem Schönheitsgefühle der Menschen an mit seinen Linien, als sei
es unmöglich, sie anders zu ziehen, und das Behagen, das er so auf die Beschauenden ausgießt,
die sich entzückt als seinesgleichen fühlen, gibt den Werken die Allmacht und seiner Person
den Schimmer glückseliger Vollkommenheit.
Raffael, Goethe und Shakespeare hatten kaum äußere Schicksale. Sie griffen mit sicht-

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