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Grimm, Herman
Michelangelo: sein Leben in Geschichte und Kultur seiner Zeit, der Blütezeit der Kunst in Florenz und Rom — Berlin: Safari-Verlag, 1941

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https://doi.org/10.11588/diglit.71912#0159
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Florenz in Michelangelos Gedichten

Ich will das Bild hier nicht beschreiben. Wie es Dinge gibt, die nur gesprochen werden können,
ohne eine Darstellung im Bilde zu ertragen, so gibt es Gemälde, die keine Beschreibung dulden,
weil das, was wir auf ihnen sehen, sich zu verwandeln scheint, indem es genannt wird. Nur
das sei gesagt: während die anderen Künstler, wenn sie Leda mit dem Schwane malten, nichts
zu geben vermochten als den reizenden Körper einer Frau, zu der ein Schwan sich spielend
herandrängt, so daß, wenn das antike Märchen verloren wäre, sich dessen tieferer Inhalt aus
ihren Kompositionen kaum erraten ließe, läßt Michelangelo die Gestalt der Leda und das
Ereignis, dem sie unterliegt, so groß, so historisch im höchsten Sinne erscheinen, daß man
erstaunt über seine Fähigkeit, sowohl die Dinge aufzufassen als sie wiederzugeben. Keine seiner
Frauen hat etwas so durchaus Kolossales als diese Leda. Wie eine gestreckte Riesin liegt sie
da, und das träumerisch starr auf die Brust gesenkte Auge scheint in einem ahnungsvollen Blicke
all das ungeheure Unheil im Geiste zu erblicken, das ihre Schwanenbrut über Troja und Griechen-
land gebracht hat. Schön genug ist sie, um die Mutter der Helena zu sein und der ungleichen
Zwillingsbrüder Kastor und Polydeukes, die alle drei die Kinder dieses Augenblickes sind.
Wie ein schneeweißes Wolkengebirge, das auf eine Kette von irdischen Bergen sich herab-
drängt, kommt Michelangelos Schwan hernieder. Das fühlt man: solange er an dem Bilde
gemalt hat, war sein Geist weitab von Florenz, versenkt in die Gedanken der alten Griechen
und befreit von der Last der Ereignisse, die sonst mit gleichmäßig düsterem Druck allüberall
sich aufdrängend ihn belasteten. —
Der Juli brach an. Man muß Florenz kennen, wie es in der heißen Jahreszeit rings von Die Pest in
Bergen umgeben daliegt, tief, wie im Grunde eines Kessels, und, ohne einen kühlenden Luftzug, Florenz
die Glut der wolkenlosen Tage aufsaugend. Der im Winter reißende Arno wird dann flach
und hat mitten in seinem Bette sandige Inseln. Wie im schleichenden Fieber atmeten die Men-
schen und lechzten nach Stärkung. Jeder Bissen war kostbar. Zuerst werden die Frauen, die von
ihrem schlechten Rufe leben, aus den Toren gestoßen. Dann die Landbewohner, die in die
Mauern geflüchtet waren. Die Dächer wurden abgedeckt, weil Brennmaterial mangelt. Aus
aller Krankheit wird jetzt die Pest. Schon ist es so weit gekommen, daß man als einzigen Erfolg
das ins Auge faßt, nicht von Malatesta lebendig dem Feinde in die Gewalt gespielt zu werden.
Ferrucci wird zum Oberbefehlshaber sämtlicher Truppen ernannt und ihm anbefohlen, auf
Florenz loszumarschieren. Beim geringsten Zeichen seiner Nähe wollen dann die Bürger aus
den Toren brechen. Die Kaiserlichen werden von zwei Seiten angegriffen. Bis zum letzten
Blutstropfen wird gekämpft. Unterliegt man, so töten die zur Bewachung der Mauern Zurück-
gebliebenen die Frauen und Kinder, stecken die Stadt in Brand und stürzen sich dem Feinde
entgegen, damit, so lautet das Ende des Beschlusses, nichts übrigbleibe von Florenz als die Er-
innerung an die Seelengröße derer, die als unsterbliches Beispiel allen denen vorleuchten
werden, die für die Freiheit geboren sind und sie bewahren wollen.
Am 14. Juli empfängt Ferrucci die Botschaft der Regierung. Zwei junge Florentiner, die ver- Ferrucci sucht
kleidet nachts sich durch das kaiserliche Lager schleichen, überbringen sie ihm. Er beschließt,
sofort nach Pisa aufzubrechen und von da Florenz zu erreichen. Volterra, Pisa und Florenz
bilden ein gleichseitiges Dreieck, dessen südliche Spitze Volterra ist. Jede Stadt von der anderen
zwei bis drei Tagemärsche entfernt. Von Volterra gleich in nordöstlicher Richtung direkt
auf Florenz loszugehen, war nicht tunlich, denn das gebirgige, zerrissene, den Florentinern
feindliche Gebiet wäre zu durchschreiten gewesen. Ferrucci mußte über das in nordwestlicher
Richtung am Meere gelegene Livorno nach Pisa zu gelangen suchen, das nicht weit von Livorno
abliegt. Von da sich nach Osten wendend und im Tale des Arno marschierend, würde er Florenz

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