Entwicklung der Malerei
Die durch Raffael und Michelangelo mühsam errungenen Prinzipien für das Verhältnis des
Nackten zur Gewandung, für die Reinheit des Gliederbaues und den edelsten Faltenwurf wurden
bei dieser Auffassung als etwas Unnützes, ja Hinderliches wieder aufgegeben. Auf den Gemälden
der Meister des 15. Jahrhunderts, besonders bei den florentinischen, sehen wir Porträts und
neuestes Kostüm angebracht. Je höher sich die Malerei erhebt jedoch, um so reiner werden
Gewänder und Gestalten. In Venedig dagegen kommt man mit Entschiedenheit darauf zurück,
sobald die eigentümliche Malerei Giorgiones den Ton angab, und der größere Maßstab, in Eigenart
dem die Gestalten hier jetzt gemalt werden, erhöht das Seltsame dieser Auffassung. Denn Gior^ones
während durch die geringeren Größenverhältnisse der älteren Meister zwischen Gemälde
und Beschauer eine Art von idealer Entfernung hervorgebracht wurde, bringt der Maßstab
der Venetianer ihre Gestalten in unmittelbare Nähe. Wir stehen davor, als könnten wir ihnen
die Hand reichen, uns vorbeugen, um die Lippen atmen zu hören. Und um dies Gefühl so
stark als möglich zu erregen und zu befriedigen, läßt man die Figuren oft nur vom Gürtel
ab in die Komposition hineinragen, legt den Rahmen dicht um die Gestalten und weiß auf dem
beschränkten Raume dennoch durch künstlich verteiltes Licht eine Fülle von Handlungen
darzustellen, die von der römischen Schule auf keine Weise so eng zusammengebracht worden
wäre. Und auf der anderen Seite, indem landschaftliches und architektonisches Nebenwerk
in den Kreis der allgemeinen Farbenharmonie, auf der die ganze Komposition beruht, hinein-
gezogen wird, lassen sich, weit voneinander getrennt, Figuren und Gruppen zu einer Einheit
dennoch aneinander schließen, die den Römern und Florentinern ebenso unerreichbar war.
Niemand würde der Sixtinischen Madonna gegenüber auf den Gedanken kommen, Raffael Florentiner und
habe das Gefühl bei dem Beschauenden erwecken wollen, eine wirkliche Gestalt käme aus Venezianer
wirklichen Wolken durch den Rahmen herab. Was wir vor dem Werke empfinden, ist etwas
Höheres. Völlig gewiß, daß wir nur bemalte Leinwand vor uns haben, steigt in unserer Seele
dennoch ein Traum auf, daß wir wie beim Anhören Goethescher Verse oder Beethovenscher Musik,
uns emporgetragen und verwandelt fühlen. Anders bei den Werken der Venezianer und ihrer
Nachfolger. Wir glauben greifen zu dürfen, was wir sehen, die leibhaftige Natur scheint auf
uns einzudringen. Ihr Triumph wäre gewesen, daß die Vögel an den gemalten Früchten gepickt
hätten. Als Tizian Paul III. malte, in späteren Jahren, und das Gemälde zum Trocknen
an die freie Luft stellte, glaubten die Römer, die vorübergingen, den Papst in Natur zu er-
blicken und begrüßten ihn. Keinem würde das bei dem Porträt Leo X., das Raffael gemalt
hat, eingefallen sein; aber man denke sie nebeneinander, um zu fühlen, welches von beiden
in höherem Sinne ein Kunstwerk sei.
Raffael sucht das Wirkliche über sich selbst zu erheben. Einen Schwung und eine Grazie Raffael und das
haben die Glieder, die er malt, und die Falten, mit denen er sie umschließt, daß sich die edlere ^fa™he
Ansicht, die er von der Natur hegt, sogleich zu erkennen gibt. Wie die Griechen bei ihren
Statuen das Individuelle zum Maße einer höheren Schönheit umzubilden suchen, findet er
in den Gestalten das Ideal und, ohne es aufzudrängen, läßt er es durchschimmern. Die Venetianer
dagegen halten fest an den irdischen Zufälligkeiten. Oft liefern diese gerade, was für den
frappanten Eindruck des Gemäldes am brauchbarsten ist. Nicht aus Liebe zur Wahrheit aber
stellen sie es dar, wie Raffael oft getan in seinen frühesten Arbeiten, sondern weil eine scharfe,
schlagende Charakteristik dadurch erreichbar scheint. Raffael kann kein Antlitz malen,
ohne im stillen einen Teil reiner Schönheit zuzusetzen. Er macht ein Gedicht gleichsam darauf,
aus dem die Gestalt uns wahr, aber erhaben entgegentritt. Bei Porträts wie bei historischen
Bildern verfährt er so, und je länger er malt, um so bewußter. Betrachten wir seine Himmel-
12 Grimm, Michelangelo
177
Die durch Raffael und Michelangelo mühsam errungenen Prinzipien für das Verhältnis des
Nackten zur Gewandung, für die Reinheit des Gliederbaues und den edelsten Faltenwurf wurden
bei dieser Auffassung als etwas Unnützes, ja Hinderliches wieder aufgegeben. Auf den Gemälden
der Meister des 15. Jahrhunderts, besonders bei den florentinischen, sehen wir Porträts und
neuestes Kostüm angebracht. Je höher sich die Malerei erhebt jedoch, um so reiner werden
Gewänder und Gestalten. In Venedig dagegen kommt man mit Entschiedenheit darauf zurück,
sobald die eigentümliche Malerei Giorgiones den Ton angab, und der größere Maßstab, in Eigenart
dem die Gestalten hier jetzt gemalt werden, erhöht das Seltsame dieser Auffassung. Denn Gior^ones
während durch die geringeren Größenverhältnisse der älteren Meister zwischen Gemälde
und Beschauer eine Art von idealer Entfernung hervorgebracht wurde, bringt der Maßstab
der Venetianer ihre Gestalten in unmittelbare Nähe. Wir stehen davor, als könnten wir ihnen
die Hand reichen, uns vorbeugen, um die Lippen atmen zu hören. Und um dies Gefühl so
stark als möglich zu erregen und zu befriedigen, läßt man die Figuren oft nur vom Gürtel
ab in die Komposition hineinragen, legt den Rahmen dicht um die Gestalten und weiß auf dem
beschränkten Raume dennoch durch künstlich verteiltes Licht eine Fülle von Handlungen
darzustellen, die von der römischen Schule auf keine Weise so eng zusammengebracht worden
wäre. Und auf der anderen Seite, indem landschaftliches und architektonisches Nebenwerk
in den Kreis der allgemeinen Farbenharmonie, auf der die ganze Komposition beruht, hinein-
gezogen wird, lassen sich, weit voneinander getrennt, Figuren und Gruppen zu einer Einheit
dennoch aneinander schließen, die den Römern und Florentinern ebenso unerreichbar war.
Niemand würde der Sixtinischen Madonna gegenüber auf den Gedanken kommen, Raffael Florentiner und
habe das Gefühl bei dem Beschauenden erwecken wollen, eine wirkliche Gestalt käme aus Venezianer
wirklichen Wolken durch den Rahmen herab. Was wir vor dem Werke empfinden, ist etwas
Höheres. Völlig gewiß, daß wir nur bemalte Leinwand vor uns haben, steigt in unserer Seele
dennoch ein Traum auf, daß wir wie beim Anhören Goethescher Verse oder Beethovenscher Musik,
uns emporgetragen und verwandelt fühlen. Anders bei den Werken der Venezianer und ihrer
Nachfolger. Wir glauben greifen zu dürfen, was wir sehen, die leibhaftige Natur scheint auf
uns einzudringen. Ihr Triumph wäre gewesen, daß die Vögel an den gemalten Früchten gepickt
hätten. Als Tizian Paul III. malte, in späteren Jahren, und das Gemälde zum Trocknen
an die freie Luft stellte, glaubten die Römer, die vorübergingen, den Papst in Natur zu er-
blicken und begrüßten ihn. Keinem würde das bei dem Porträt Leo X., das Raffael gemalt
hat, eingefallen sein; aber man denke sie nebeneinander, um zu fühlen, welches von beiden
in höherem Sinne ein Kunstwerk sei.
Raffael sucht das Wirkliche über sich selbst zu erheben. Einen Schwung und eine Grazie Raffael und das
haben die Glieder, die er malt, und die Falten, mit denen er sie umschließt, daß sich die edlere ^fa™he
Ansicht, die er von der Natur hegt, sogleich zu erkennen gibt. Wie die Griechen bei ihren
Statuen das Individuelle zum Maße einer höheren Schönheit umzubilden suchen, findet er
in den Gestalten das Ideal und, ohne es aufzudrängen, läßt er es durchschimmern. Die Venetianer
dagegen halten fest an den irdischen Zufälligkeiten. Oft liefern diese gerade, was für den
frappanten Eindruck des Gemäldes am brauchbarsten ist. Nicht aus Liebe zur Wahrheit aber
stellen sie es dar, wie Raffael oft getan in seinen frühesten Arbeiten, sondern weil eine scharfe,
schlagende Charakteristik dadurch erreichbar scheint. Raffael kann kein Antlitz malen,
ohne im stillen einen Teil reiner Schönheit zuzusetzen. Er macht ein Gedicht gleichsam darauf,
aus dem die Gestalt uns wahr, aber erhaben entgegentritt. Bei Porträts wie bei historischen
Bildern verfährt er so, und je länger er malt, um so bewußter. Betrachten wir seine Himmel-
12 Grimm, Michelangelo
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