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Historisch-Philosophischer Verein <Heidelberg> [Hrsg.]
Neue Heidelberger Jahrbücher — 6.1896

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Erdmannsdörffer, Bernhard: Kleine Beiträge zur Goethe-Biographie
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https://doi.org/10.11588/diglit.29036#0198
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B. Erdmannsdörffer

empfangen; „es waren“, schreibt er im Oktober an Bürger, „die zerstreu-
testen, verworrensten, ganzesten, vollsten, leersten, kräftigsten und läp-
pischsten drei Vierteljahre, die ich in meinem Leben gehabt habe; was
die menschliche Natur nur von Widersprüchen sammeln kann, hat mir
die Fee Hold oder Unhold — wie soll ich sie nennen — zum Neujahrs-
geschenk von 75 gereicht“.

Im Mittelpunkt aller dieser Verwirrungen und Seelenkämpfe stand
das Verhältnis zu Lili Schönemann. Im Dezember 1774 hatte Goethe
sie kennen gelernt; ein Vierteljahr später folgte, durch eine vermittelnde
Freundin in etwas forcierter Weise herbeigeführt, eine Art von balb-
officieller Verlobung. Aber zur Lösung der äusseren und inneren Schwie-
rigkeiten, die der Verbindung von Anfang an im Wege standen, führte
dieser Schritt nicht: lange Monate kamen voll jäher Wechsel zwischen
hingerissenem Liebesglück und zehrendem Zweifel, zwischen Eifersucht
und Gleichgiltigkeit. Flucht und Wiederkehr; die doch tiefgegründete
Leidenschaft des Dichters für die Geliebte vermochte über das Gefühl
nicht hinwegzukommen, dass eine volle Harmonie des Daseins aus der
Verbindung mit Lili ihm nicht erblühen könne. Neue befreiende Ein-
drücke werden gesucht: die Sommerreise in die Schweiz1) mit den
Brüdern Stolberg und dem Grafen Haugwitz, an deren Stelle dann unter-
wegs Passavant trat, war ein erster Fluchtversuch — der Heimkehrende
erlag dem alten Beiz und dem alten Zweifel. Dann wieder neue Wochen
des Hangens und Bangens, des Anziehens und Abstossens, voll aufregender
Zerstreuungen bei innerer Zerrissenheit, in vielseitigstem Menschenver-
kehr, mit reicher dichterischer Produktion, den Faust und den Egmont
gleichzeitig im Kopfe.

Endlich erreicht doch der Prozess der langsamen Lockerung und
Lösung sein Ende. Äusserlicb, wenn auch noch nicht sogleich innerlich,
erfolgte die Trennung von Lili, und es erschien nun angezeigt, durch eine
längere Abwesenheit von Frankfurt die Überleitung in den gegebenen
neuen Zustand zu erleichtern. Der Vater Goethe, dem ebenso wie der
Mutter die Aussicht auf eine eheliche Verbindung des Sohnes mit der
„Staatsdame“ aus einem anderen gesellschaftlichen Kreise von jeher
wenig Vertrauen eingeflösst hatte, kam jetzt gern auf einen alten Lieb-
lingsgedanken zurück: eine Keise nach Italien sollte Wolfgang unter-
nehmen, nach dem Lande, das er selbst einst in jungen Jahren gesehen
und von dem eine Fülle schimmernder Erinnerungen ihn durch die

1) Auch auf dieser Reise, wenn wir vollständig sein wollen, verweilte Goethe
einen Tag in Heidelberg, 16./17. Mai 1775.
 
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