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Brodersen, Kai; Wink, Michael [Editor]; Bartram, Claus R. [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Vererbung und Milieu — Berlin [u.a.], 45.2001

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.4063#0135

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Wie entwickelt sich die kindliche Persönlichkeit? 123

Bestätigungen seiner Äußerungen durch die Mütterliche vokale und mimi-
sche Reaktion fehlt oder abgeschwächt ist. Für die Kinder stellt dies eine ho-
he Belastung dar, wie aus psychophysiologischen Untersuchungen zu ent-
nehmen ist.

Viele Mütter zeigen jedoch auch eine Beeinträchtigung ihrer intuitiven
Kompetenzen durch eine verzerrte Wahrnehmung des Kindes. Dies leitet
über zu einem weiteren, wesentlichen Modus der Interaktion mit der Um-
welt bei der Ausformung der kindlichen Persönlichkeit:

4. Projektion: Ein besonderes Charakteristikum der frühen Mutter-Kind-
Beziehung ist die Deutung des kindlichen Verhaltens durch die Eltern, was
insbesondere im Neugeborenenalter in „fortwährender Überschätzung des
Absichtselementes" (Hinde 1976) geschieht und die Mutter-Kind-Inter-
aktion in dieser Lebensphase konturiert. Dabei mischen sich elterliche Intro-
jekte, die „Gespenster im Kinderzimmer" (Selma Fraiberg 1980) in den Dia-
log zwischen Eltern und Kind. Einige Autoren bezeichnen diesen Prozess
auch als Rückkehr der Eltern zur kindlichen Neurose (Kreisler 1981), da die
Inhalte der auf den Säugling bezogenen Phantasien häufig aus belasteten Be-
ziehungsmustern der elterlichen Vergangenheit entspringen und das Baby
somit einen Aspekt des Unbewussten eines Elternteiles repräsentiert (Bra-
zelton 1989).

Für die kindliche Entwicklung ist dieser Vorgang insofern bedeutungs-
voll, als die Reaktion der Mutter auf das Kind häufig der „hineininterpretier-
ten Bedeutung des kindlichen Verhaltens" (Gramer 1986) gilt.

Dabei handelt es sich um die Projektionen elterlicher Repräsentanzen, Af-
fekte, Selbstanteile auf den Säugling, der für alle Eltern eine Matrix darstellt,
dessen Absichtselement überschätzt werden muss (Hinde). Die Bedeutungs-
zuschreibung kindlicher ungerichteter Aufk'rungen durch die Eltern ge-
schieht teils bewusst, teils unbewusst. Laut Domes (1998) hat sie einen ent-
scheidenden Anteil an der Ausformung des kindlichen Selbstkonzeptes. Den
Einschluss des Kindes in das symbolische Universum der Eltern bezeichnet
Domes als unausweichliches, aber einzigartiges Phänomen der menschli-
chen Gattung. Während die Psychoanalyse sich der Entstehung und dem
Inhalt der elterlichen Phantasien zuwendet, beschäftigt sich die Inter-
aktionsforschung mit den Ausdrucksformen dieser Phantasien, welche
Transmissionsmechanismen pathologischer Konflikte und innerpsychischer
Konstellationen darstellen können:

Je drängender die unbewussten Phantasien und Konflikte der Eltern sind,
desto wahrscheinlicher wird eine subjektiv übermäßig verzerrte Ausdeutung
kindlicher Signale mit potentiell pathologischen Konsequenzen (Brazelton
1986). Empirisch wurde dies bislang an Einzelfallbeispielen beschrieben
(Cramer 1987). Dieser projektive Mechanismus dürfte sich insbesondere
 
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