202 Peter Fiedler
Recht, angehört zu werden. Als einen möglichen Ort für solche selbstfinden-
den Gespräche gibt es seither eine offizielle Institution: die Psychotherapie.
Trotz einer primär psychologischen Untersuchung des Konfliktgeschehens
wies Freud der biologischen Struktur die grundlegendere Bedeutung gegen-
über sozial-gesellschaftlichen Anforderungen an das Individuum zu. So wird
denn die Dialektik zwischen individuellen Triebbedürfnissen und sozialen
Anforderungen und Reglementierungen, die nach Freud den Ausgangspunkt
für Neurosen bildet, als Konflikt zwischen biologisch immer gleichen Trieben
und der je gegebenen Existenz zivilisatorischer Einschränkungen persönli-
cher Freiheiten aufgefasst.
1.2 Soziale Konflikte
Verschiedene Faktoren haben schließlich dazu beigetragen, die Sichtweise
einer biologisch gegebenen, den historischen Determinationen entzogenen
„menschlichen Natur" in Frage zu stellen - wie dies noch typisch gewesen
war für die Psychologie und Psychiatrie des 19. Jahrhunderts und wie sie als
solche die Grundlagen für Freuds Psychoanalyse abgaben. Mit ihrer Rezep-
tion psychoanalytischen Denkens waren die Entwicklung der Soziologie, die
Entstehung der kulturellen Ethnologie und die Entwicklung der Psychologie
entscheidende Faktoren für die Erschütterung der individualistischen biolo-
gischen Schemata.
Im Laufe der 1930er Jahre führten Studien der Frankfurter Schule über die
Familie und Aufsätze Horkheimers allmählich zu einer Revision einiger
Grundsätze der Psychoanalyse Freudscher Prägung, vor allem in Arbeiten
von Erich Fromm und in den Frühschriften von Karen Horney. Zur Schule der
so genannten Neo-Freudianer gehörte neben Fromm und Horney vor allem
Sullivan, dessen Interpersonelle Theorie der Psychiatrie (1953) bis in die Ge-
genwart hinein rezipiert wird. Die Neo-Freudianer, die sich in den 1940er Jah-
ren in den USA zusammenschlössen, bestritten die Freudsche Triebkonflikt-
theorie. Sie behaupteten, neurotische Störungen seien das Ergebnis wider-
sprüchlicher sozialer und gesellschaftlicher Anforderungen. Damit brachten
sie den sich nach Kultur, Epoche und Gesellschaftsschicht jeweils relativie-
renden Charakter der Widersprüche und der individuellen Leiden wieder zur
Geltung.
Innerhalb der Nachfolgegeneration der Neo-Analytiker wird die Besonder-
heit psychischer Störungen und abweichenden Verhaltens nicht mehr nur als
inneres Leiden der Menschen gesehen, sondern als soziale Rolle oder als Er-
gebnis von Rollenkonflikten. Das Rollenverhalten und vorhandene Rollen-
Konflikte können nur in Begriffen der Kommunikation und Interaktion ge-
fasst werden. Diese existieren nicht an sich, sondern sind immer Teil einer
Struktur zwischenmenschlicher Beziehungen. Damit hatte sich eine aus-
drücklich sozialpsychologische und soziologische Sichtweise psychischer
Recht, angehört zu werden. Als einen möglichen Ort für solche selbstfinden-
den Gespräche gibt es seither eine offizielle Institution: die Psychotherapie.
Trotz einer primär psychologischen Untersuchung des Konfliktgeschehens
wies Freud der biologischen Struktur die grundlegendere Bedeutung gegen-
über sozial-gesellschaftlichen Anforderungen an das Individuum zu. So wird
denn die Dialektik zwischen individuellen Triebbedürfnissen und sozialen
Anforderungen und Reglementierungen, die nach Freud den Ausgangspunkt
für Neurosen bildet, als Konflikt zwischen biologisch immer gleichen Trieben
und der je gegebenen Existenz zivilisatorischer Einschränkungen persönli-
cher Freiheiten aufgefasst.
1.2 Soziale Konflikte
Verschiedene Faktoren haben schließlich dazu beigetragen, die Sichtweise
einer biologisch gegebenen, den historischen Determinationen entzogenen
„menschlichen Natur" in Frage zu stellen - wie dies noch typisch gewesen
war für die Psychologie und Psychiatrie des 19. Jahrhunderts und wie sie als
solche die Grundlagen für Freuds Psychoanalyse abgaben. Mit ihrer Rezep-
tion psychoanalytischen Denkens waren die Entwicklung der Soziologie, die
Entstehung der kulturellen Ethnologie und die Entwicklung der Psychologie
entscheidende Faktoren für die Erschütterung der individualistischen biolo-
gischen Schemata.
Im Laufe der 1930er Jahre führten Studien der Frankfurter Schule über die
Familie und Aufsätze Horkheimers allmählich zu einer Revision einiger
Grundsätze der Psychoanalyse Freudscher Prägung, vor allem in Arbeiten
von Erich Fromm und in den Frühschriften von Karen Horney. Zur Schule der
so genannten Neo-Freudianer gehörte neben Fromm und Horney vor allem
Sullivan, dessen Interpersonelle Theorie der Psychiatrie (1953) bis in die Ge-
genwart hinein rezipiert wird. Die Neo-Freudianer, die sich in den 1940er Jah-
ren in den USA zusammenschlössen, bestritten die Freudsche Triebkonflikt-
theorie. Sie behaupteten, neurotische Störungen seien das Ergebnis wider-
sprüchlicher sozialer und gesellschaftlicher Anforderungen. Damit brachten
sie den sich nach Kultur, Epoche und Gesellschaftsschicht jeweils relativie-
renden Charakter der Widersprüche und der individuellen Leiden wieder zur
Geltung.
Innerhalb der Nachfolgegeneration der Neo-Analytiker wird die Besonder-
heit psychischer Störungen und abweichenden Verhaltens nicht mehr nur als
inneres Leiden der Menschen gesehen, sondern als soziale Rolle oder als Er-
gebnis von Rollenkonflikten. Das Rollenverhalten und vorhandene Rollen-
Konflikte können nur in Begriffen der Kommunikation und Interaktion ge-
fasst werden. Diese existieren nicht an sich, sondern sind immer Teil einer
Struktur zwischenmenschlicher Beziehungen. Damit hatte sich eine aus-
drücklich sozialpsychologische und soziologische Sichtweise psychischer