Die Bedeutung innerpsychischer Konflikte 203
Störungen etabliert. Die Neoanalytiker bezeichneten sich weiterhin als Psy-
choanalytiker, firmieren und publizieren gelegentlich bis heute und in Anleh-
nung an Sullivan gern unter der Bezeichnung „Interpersonelle Psychothera-
pie" (Anchin/Kiesler 1980).
1.3 Konfliktangst
Der Gedanke, dass die objektive Lage, in der sich ein Individuum befindet, Ur-
sache und nicht Folge seiner subjektiven Seins- und Denkweise ist, wird in
den 1960er und 1970er Jahren am klarsten in der neoanalytisch geprägten An-
tipsychiatriebewegung aufgegriffen (Jervis 1975). Psychische Störungen lie-
ßen sich danach auch als Ausdruck oder Widerspiegelungen von gesellschaft-
lichen Widersprüchen begreifen, die vor allem in zwischenmenschlicher
Angst ihren Niederschlag finden. Der Unterschied zwischen normaler Angst
und einer Angst als Leitsymptom psychischer Störungen wird darin gesehen,
dass sich Letztere aus einem ungelösten und nicht klar wahrgenommenen
Konflikt zwischen widersprüchlichen Ansprüchen ergibt - und zwar vorran-
gig durch den Konflikt zwischen Anpassungs- und Freiheitsanspruch, zwi-
schen Unsicherheit in Bezug auf ein Akzeptieren gesellschaftlicher Anforde-
rungen und Zwänge bei gleichzeitig vorhandener Tendenz zur Verweigerung.
Im Sinne dieses Denkansatzes wären unter zwei Konstellationen neuroti-
sche Störungen nicht zu erwarten: einerseits bei vollkommenem Konformis-
mus und bei völliger Anerkennung der Unterdrückung sowie andererseits,
wenn die persönliche Freiheit ständig und engstirnig voran gestellt wird, oh-
ne volles Bewusstsein der Unterdrückung, die dazu bestimmt wäre, sie zu ver-
hindern. Die Neurose selbst ist also keine klar begrenzbare und auch keine
homogene Realität. Neurotisierende Faktoren wirken auf das gesamte Leben
des Individuums ein, womit sie existenzielle Bedeutung erlangen. Neuroti-
sche Auffälligkeiten sind mithin Ausdruck einer weitergehenden Situation
allgemeinen Unbehagens, an dem Menschen leiden: Da sie von der gesamten
Lebensgeschichte des Einzelnen nicht zu trennen sind, sind sie auch Teil der
kollektiven Probleme, in der sich der Einzelne verstrickt findet.
2 Wege in die Gegenwart: Konflikt in der Klinischen Forschung
Außerhalb und in gewisser Konkurrenz zur hermeneutisch und phänomeno-
logisch arbeitenden Psychoanalyse hatten sich die in der Psychologie und
Psychiatrie empirisch forschenden Wissenschaftler daran gemacht, ihrerseits
die Tragfähigkeit des Konflikt-Konzeptes als Erklärungsmöglichkeit für psy-
chische Störungen zu untersuchen. Auch in der klinischen Forschung meint
der Konfliktbegriff immer innerpsychische Konflikte. Äußere Konflikte, wie
der Streit zwischen Menschen, werden unter den Kategorien der äußeren Be-
Störungen etabliert. Die Neoanalytiker bezeichneten sich weiterhin als Psy-
choanalytiker, firmieren und publizieren gelegentlich bis heute und in Anleh-
nung an Sullivan gern unter der Bezeichnung „Interpersonelle Psychothera-
pie" (Anchin/Kiesler 1980).
1.3 Konfliktangst
Der Gedanke, dass die objektive Lage, in der sich ein Individuum befindet, Ur-
sache und nicht Folge seiner subjektiven Seins- und Denkweise ist, wird in
den 1960er und 1970er Jahren am klarsten in der neoanalytisch geprägten An-
tipsychiatriebewegung aufgegriffen (Jervis 1975). Psychische Störungen lie-
ßen sich danach auch als Ausdruck oder Widerspiegelungen von gesellschaft-
lichen Widersprüchen begreifen, die vor allem in zwischenmenschlicher
Angst ihren Niederschlag finden. Der Unterschied zwischen normaler Angst
und einer Angst als Leitsymptom psychischer Störungen wird darin gesehen,
dass sich Letztere aus einem ungelösten und nicht klar wahrgenommenen
Konflikt zwischen widersprüchlichen Ansprüchen ergibt - und zwar vorran-
gig durch den Konflikt zwischen Anpassungs- und Freiheitsanspruch, zwi-
schen Unsicherheit in Bezug auf ein Akzeptieren gesellschaftlicher Anforde-
rungen und Zwänge bei gleichzeitig vorhandener Tendenz zur Verweigerung.
Im Sinne dieses Denkansatzes wären unter zwei Konstellationen neuroti-
sche Störungen nicht zu erwarten: einerseits bei vollkommenem Konformis-
mus und bei völliger Anerkennung der Unterdrückung sowie andererseits,
wenn die persönliche Freiheit ständig und engstirnig voran gestellt wird, oh-
ne volles Bewusstsein der Unterdrückung, die dazu bestimmt wäre, sie zu ver-
hindern. Die Neurose selbst ist also keine klar begrenzbare und auch keine
homogene Realität. Neurotisierende Faktoren wirken auf das gesamte Leben
des Individuums ein, womit sie existenzielle Bedeutung erlangen. Neuroti-
sche Auffälligkeiten sind mithin Ausdruck einer weitergehenden Situation
allgemeinen Unbehagens, an dem Menschen leiden: Da sie von der gesamten
Lebensgeschichte des Einzelnen nicht zu trennen sind, sind sie auch Teil der
kollektiven Probleme, in der sich der Einzelne verstrickt findet.
2 Wege in die Gegenwart: Konflikt in der Klinischen Forschung
Außerhalb und in gewisser Konkurrenz zur hermeneutisch und phänomeno-
logisch arbeitenden Psychoanalyse hatten sich die in der Psychologie und
Psychiatrie empirisch forschenden Wissenschaftler daran gemacht, ihrerseits
die Tragfähigkeit des Konflikt-Konzeptes als Erklärungsmöglichkeit für psy-
chische Störungen zu untersuchen. Auch in der klinischen Forschung meint
der Konfliktbegriff immer innerpsychische Konflikte. Äußere Konflikte, wie
der Streit zwischen Menschen, werden unter den Kategorien der äußeren Be-