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Heidelberger Volksblatt (18) — 1885

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Nr. 102 - Nr. 114 (2. September - 30. September)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44621#0454

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4⁵⁰

Fauſtſchlag die gepolſterte Thür der verfluchten Halle auf,
trat in dem Augenblick ein, als die Uhr gerade anfing,

Mitternacht zu ſchlagen, warf den geſtohlenen Louisd'or auf

den grünen Tiſch und rief: „Das ganze auf Nummer 17.“
Die 17 gewann. ö
Louisd'or auf Roth. Er gewann. Er ließ die 72 Louis-
d'or ſtehen, Roth kam wieder. Er fuhr fort, verdoppelte
den Einſatz, zwei⸗, dreimal, immer mit demſelben Glück.
Er hatte mit wenigen Drehungen des Glücksrades die elen-
den Tauſendfrancsſcheine wieder gewonnen, die er am Be-
ginn des Abends verloren hatte. Nun ſetzte er ſchon 2 — 300

Louisd'or auf eine Nummer, und da das Glück ihm treu

blieb, gewann er mehr als das Vermögen, das er in weni-
gen Jahren vergeudet hatte. Er ſpielte immer weiter und
gewinnt immer wieder. Das Blut kocht in ſeinen Adern,

er wird förmlich berauſcht vom Glück, er wirft ganze Hände

voll Gold auf den Tiſch mit Siegesbewußtſein und Verach-
tung. Aber trotz der Aufregung des Spiels dringt ihm ein
glühendes Eiſen durchs Herz.
das kleine Bettelkind zu denken, welches unter dem Schnee
ſchläft — das Bettelkind, das er beſtohlen hat. Sie muß
noch an derſelben Stelle ſein. Noch einen Augenblick —
— Ja, wenn die Uhr eins ſchlägt — — ich ſchwöre es,
will ich dieſes Haus verlaſſen. Ich will ſie aufheben und
ſchlafend nach meinem Haus tragen. Ich werde ſie erziehen
laſſen, ihr eine Mitgift geben, ſie wie eine Tochter lieben,
ſie immer lieb behalten, immer. ö

* ‚ *
*

Aber die Uhr ſchlägt eins — ein Viertel — halb —
drei Viertel. Lucien ſaß noch an dem verfluchten Tiſch.
Endlich, eine Minute vor 2 Uhr ſtand der Bankhalter ſchnell
auf und ſagte laut: „Die Bank iſt geſprengt, meine Herrn,
für heute genug!“ ö
Mit einem Satz ſtand Lucien auf den Füßen. Unge-
ſtüm ſtieß er die Mitſpieler, die ihn voll Neid und Bewun-
derung umringten, bei Seite, lief die Treppe hinunter und
ſtürzte auf die Steinbank zuG. Von Weitem ſchon ſah er
beim Scheine der Gaslampe das kleine Mädchen.
„Gott ſei gelobt,“ ſchrie er, „ſie iſt noch da.“ Er nä-
herte ſich ihr und ergriff ihre Hand. Oh, wie kalt ſie war!
Das arme Kind! Er nahm ſie in ſeine Arme, um ſie fort-
zutragen. Des Kindes Haupt ſank zurück, aber ſie erwachte
nicht. Wie ſchläft man in dieſem Alter! Er drückte ſie an
ſein Herz, um ihrem kleinen Körper die Wärme wieder zu
geben, aber ein eigenthümliches Unbehagen veranlaßte ihn,
ihre Augen zu küſſen, um ſie aus dieſem ſchweren
Schlummer zu erwecken. Im Begriff, es zu thun, bemerkte
er mit Entſetzen, daß ihre Augenlider halb geöffnet waren
und die Augen ſchienen trübe und gläſern. Ein ſchrecklicher
Verdacht flog ihm durch den Sinn.
Mund dem ihrigen, aber nicht ein Hauch kam daraus her-
vor. Während er mit dem Goldſtück, das er er dieſer Hei-

mathloſen geraubt hatte, ein kleines Vermögen gewonnen,

war ſie erfroren. Die entſetzliche Angſt ſchüttelte ihn, er

Mit einem Zug ſchob Lucien 36

Er kann nicht aufhören, an

Er näherte ſeinen

weiſe zur Theilnehmerin meiner perſönlichen Rührungen zu

* *
woll hreſe ergebens/ er mach eine gewaltſame An-
ſtrengung und⸗ erwachte aus einem Traume auf dem Leder-

ſopha des Clubs, wo er etwas vor Mitternacht eingeſchlafen
war, und wo der Diener ihn, als er als Letzter gegen 5
Uhr das Lokal verließ, aus Menſchenfreundlichkeit ruhig

ſchlafen gelaſſen hatte.

Ein kalter Dezembermorgen hatte die Fenſterſcheiben zu-
frieren laſſen, und eine Feenhand hatte manches Luſtſchloß
an die Scheiben gemalt, das beim Aufgang der Sonne

wieder zerrann. Lucien ging fort, verſetzte ſeine Uhr, nahm

ein Bad, frühſtückte und ging in das Werbebureau, wo er
ſich als Freiwilliger in das erſte Regiment der afrikaniſchen
Jäger einſchreiben ließ.
Heute iſt Lucien de Hem Lientenant. Er hat nur ge-
wöhnlichen Soldatenlohn, aber er kommt vorwärts, da er
ſehr mäßig lebt und nie eine Karte berührt. Es ſcheint
ſogar, als ob er ſchon ſparen könnte, denn neulich ſah ihn
einer ſeiner ſeiner Freunde in Algier, als er einem kleinen

Mädchen, das in einem Thorweg ſchlief, ein Almoſen gab.
Der Andere ging dicht hinter ihm und war neugierig und

taktlos genug, die Gabe zu prüfen. Er war erſtaunt über
die Großmuth des armen Lieutenants, Lucien de Hem
hatte einen Louisd'or in die Hand des armen Kindes
gelegt.

Weibliche Handarbeiten.
* I.

Verzeihung, meine Gnädige, wenn ich einen Gegenſtand
zu beſprechen wage, welcher Ihren ſchönen Händen allein
anvertraut iſt, und bezüglich deſſen Sie ſich längſt gewöhnt
haben, uns Männer als Barbaren anzuſehen. Und das
mit Recht, denn weit entfernt, jene ſtrickenden Schäfer und
ſtickrahmbefliſſenen Junggeſellen als Normalmänner anzuer-
kennen, geſtehe ich vielmehr in dieſem Punkte Ihre vollſtän-

dige Ueberlegenheit, Ihre unumſchränkte Herrſchaft zu. Nicht

Umſturzideen alſo ſind es, die mich veranlaſſen, dies Thema
zu diskutiren; obwohl Sie nicht glauben mögen, daß ich

darin ſo ganz Laie bin. O, auch ich bin Arkadien grboren,

nicht bei jenen ſtrickenden Schäfern, aber in ſo glücklichen
Verhältniſſen, daß ich von meiner Wiege ab ſtets mit den
zierlichen Produkten zarter Frauenhände beſchütten worden
bin. Dieſer reizende Tintenwiſcher — ſolch' einen Wiſcher ö
läßt man ſich wohl gefallen! — ertheilte mir eine meiner
aufmerkſamen, kleinen Nichten; das reiche Kiſſen in türki-
ſchem Geſchmack, woran ich von Zeit zu Zeit mich zu nach-
denklicher Ruhe lehne, iſt ein Geſchenk von Schweſterliebe;
und dieſe ſaubere Perlenſtickerei in meiner Brieftaſche, über
Roſen ein flatternder Amor, trage ich zum Andenken an
eine Jugendliebe —— ö

Hoch bin ich im Begriff, Sie meine Gnädige, taltloſer-

ᷣ**
 
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