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Heidelberger Volksblatt (18) — 1885

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Nr. 102 - Nr. 114 (2. September - 30. September)
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Steitag, den 25. Septeniber 1885.

18. Jahrl.

erſcheut iden Mentag, Mittwoch und Freitag. Preis monatlich 36 Pf. Einzelne Nummer 4 6 Pf. Man abonuirt beim
ö ö Verleger, Schiffgaſſe 4 und bei den Trägern. Answärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

—.—

7

Der Louisd'or.
Von Fraugois Coppée.
ö Lucien de Hem hatte ſeine letzten Banknoten in der
Hand des Croupiers verſchwinden ſehen und erhob ſich vom
Ruolettetiſch, an welchem er bereits ein Vermögen verſpielt
hatte. Als er ſo auf das Geld blickte, das er mühſam zu-
ſammengeſucht hatte, um damit einen letzten Verſuch zu
machen, hatte er ein Gefühl, als wenn ihn ein Schwindel
erfaßte und er umfallen müßte. Er beherrſcht ſich jedoch

und ſuchte, wenn auch ſchwankenden Schrittes und mit
fieberheißem Kopf eine der Lederbänke auf, die im Spiel-

ſaal ſtanden. Während einiger Minuten ſtarrte er wie ab-
weſend in dieſer heimlichen Spielhölle umher, wo er ſeine
beſten Jugendjahre vergeudet hatte. Es fiel ihm ein, daß
er daheim in irgend einem Schubfach ſeines Schreibtiſches
die Piſtolen verwahrt habe, mit denen ſein Vater, der Ge-
neral Hem, ſich als einfacher Lieutenant bei dem Sturm
hatte. Dann übermannte ihn die
Müdigkeit und er ſchlief ein. ö ö
Er erwachte mit trockenem Hals und brennendem Durſt.
Er ſah nach der Uhr, die Zeiger wieſen ein Viertel auf
zwölf Uhr. Ein unwiderſtehliches Verlangen nach friſcher
Luft ergriff ihn; er erhob ſich und blickte in die Dunkelheit

hinans. Er war Weihnachtsabend. Die Schneeflocken blitzten

nacht erſcheinen wird.“

gleich Diamanten im Scheine des Lichtes. Eine verhüllte
Geſtalt ging ſchnellen Schrittes vorüber und verſchwand
wieder im Dunkel. Ein ſonderbares Spiel des Gedächtniſſes
brachte ihm ſein früheſtes Leben in Erinnerung.

*

*
In demſelben Augenlllick näherte ſich ihm der alte
Drovski, der „klaſſiſche Pole“, einer der Stammgäſte des
Lokals, in fadenſcheinigem Rock und mit Olivenlaub be-
kränzt. „Bitte, mein Herr, leihen Sie mir fünf Francs.

4 Seit zwei Tagen bin ich nicht vom Spieltiſch geweſen, und
ſeit zwei Tagen iſt die „17⁰ ö

wei 2 nicht herausgekommen“, mur-
melte er in ſeinen grauen ſtruppigen Bart.
mich aus, wenn Sie wollen, aber ich wette,

ö o hoch Si
wollen, daß die Nummer 5 Miiter-

vor dem erſten Schlage der Mitter-
„Lucien de Hem zuchte die Ackſel.

Forderung zu befriebigen. Er ging auf den Flur, nahm
Hut und Pelz und ſtieg die Treppe in fieberhafter Eile

war ganz weiß. ö

„Lachen Sie

hinab. Während der vier Stunden, die er im Spielſaal zu-
gebracht hatte, war reichlich Schnee gefallen und die Straße

Der unglückliche Spieler ſchauderte vor Kälte unter dem

Pelz und beſchleunigte ſeine Schritte, aber ehe er weit ge-
kommen war, hielt er plötzlich vor einem traurigen Bilde-

an. Auf einer rohen Bank, welche, wie es früher Sitte war,

in der Niſche eines Thorweges angebracht war, ſaß ein.

kleines Mädchen von 6—7 Jahren nothdürftig mit einem
zerriſſenen ſchwarzeu Kleide bedeckt, im Schnee. Sie war:
dort eingeſchlafen, trotz der großen Kälte. Sie wußte nichts
von den fallenden Flocken, die ſanft ihre weißen Lippen und
geſchloſſenen Augen küßten und mit magiſcher Hand ein
reines, weißes Gewand über ihren kleinen Körper deckten.
Ihre Stellung verrieht Müdigkeit und Kammer. Einer
ihrer hölzernen Schuhe war vou dem herabhängeuden Fuß-
geglitten und lag vor ihr im Schnee. Mit einer mechani-
ſchen Bewegung durchſuchte Lucien ſeine Taſche, aber er
erinnerte ſich ſofort, daß er eben erſt vergeblich nach einem
verborgenen Franeſtück geſucht hatte, um dem Diener im-
Spielſaal ein Trinkgeld zu geben. Bewegt und von einem

natürlichen Mitgefühl geleitet, näherte er ſich trotzdem dem-

kleinen Mädchen mit der Abſicht, ſie nach irgend einem
Platze zu tragen, wo ſie für eine Nacht wenigſtens Schutz
fände, als plötzlich ſein Auge in dem heruntergefallenen
Schuh etwas glänzen ſah. Er bog ſich nieder, es war ein
Louisd'or. Irgend eine mitleidige Seele hatte im Vorüber-
gehen an dieſem Weihnachtsabend den Schuh vor dem Kinde
liegen ſehen und hatte mit dem Gedanken an die rührende
Liegende mit zarter Hand ein königliches Almoſen geſpendet,
damit die arme, kleine Verlaſſene troß ihres Unglücks Hoff-
nung und Vertrauen in die Vorſehung behalten möge. ö
Ein Louisd'or! Das hieß für das Bettelkind mehrere
Tage der Ruhe und des Wohllebens, und Lucien war im
Begriff, ſie zu wecken und ihr dies zu ſagen, als er nahe
an ſeinem Ohre eine Stimme zu hören glaubte. Die
Stimme des Polen, welcher wieder die Worte murmelte:
„Seit zwei Tagen iſt die „17“ nicht herausgekommen; ich
verwette meinen Kopf, daß die Nummer bis Mitternacht
erſcheinen wird.“
Da überkam unſeren

Helden, der vorher niemals ſeine
Ehre verletzt hatte, ein furchtbarer Gedanke.

Er blickte

umher, ob er auch ganz allein in der öden Straße wäre
und dann mit zitternder Hand ſtahl er den Louisd'or aus
dem Schuh. Dann lief er nach dem Spielhauſe zurück
ſprang mit einem Satz die Treppe hinauf, ſchlug mii einem —
 
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