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Heidelberger Volksblatt (18) — 1885

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Nr. 102 - Nr. 114 (2. September - 30. September)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44621#0457

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Montag, den 28. September 1885.

18. Jahrg.

Erſcheint jeden Montag, Mittwoch und Freitag. Preis monatlich 36 Pf. Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim

Berleger, Schiffgaſſe 4 und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

2.—
——

Die kleine alte Jungfer.
Aus dem Engliſchen.

— „Ach, Tante Fanny, wie reizend! Iſt das für Laura

oder für mich?“ rief eine hübſche, aber ziemlich abgeſchmackt
ausſehende Blondine, während ſie einen koſtbaren goldenen
Haarſchmuck, der, in zierlicher Arbeit ausgeführt, einen Zweig
Aehren mit herabhängendem Gras darſtellte, in die Höhe
hielt. „Wo haſt Du das verſteckt gehabt?“
„Es iſt ein Andenken von einem alten Freunde, das

ſich bereits ſeit dreizehn Jahren unter meinen Schätzen be-

findet, Bertha,“ lautete die Antwort.
„Nun aber iſt es mein,“ ſprach das junge Mädchen
ſchmeichelnd weiter. „Morgen Abend wenigſtens, denn da
muß ich ſo hübſch wie möglich ausſehen, die Anderen werden
auch alles thun, um recht beſtrickend zu ſein.“
„Sind die jungen Damen jetzt ſo ängſtlich bemüht, zu
gefallen? fragte die Tante. „Zu meiner Zeit warteten fie
ruhig, bis ſie geſucht wurden; doch nach dem zu urtheilen,
was Du mir erzählt haſt, muß Dein Held bei einer jeden
jungen Dame in Silverdale anklopfen können, ohne abge-
wieſen zu werden.“ ö ö
VEr ſelbſt weiß es ja nicht,“ antwortete Bertha. „Und,
Tante Fanny, er iſt es wirklich werth, daß man ihm den
Hof macht; er iſt ungeheuer reich.“ ö
„Iſt das alles, was man von einem Ehemann ver-
langt?“ ſprach die Tante ernſt. ö
„Wenigſtens iſt es heutzutage die Hauptſache,“ meinte
Bertha. „Lawrence Lane aber beſitzt mehr als Reichthum.
Man ſagte mir, daß er, bevor er in's Ausland ging, all-
gemein als einer der begabteſten Menſchen bekannt war;
und Lucy Hardings ſpricht von ihm ſtets nur als „ein
Ehrenmann von Kopf bis zur Zehe,“ und ſie iſt ſehr ſpärlich
im Lob. •I
„Ein Ehrenmann von Kopf bis zur Zehe!“ Tante
Fanny wiederholte die Worte in ſinnendem Tone, während
ein ſanfter Strahl aus ihren dunklen Augen leuchtete und
ein Lächeln ihre Lippen umſpielte.

„Da Bertha ſah, daß der goldene Aehrenzweig ihr Haar
nicht ſchmücken würde, ging ſie ein Lied trällernd davon,
unmd Tante Faund legte ihren Schatz, nachdem ſie noch einen
zärtlichen Blick darauf geworfen, wieder in das Schmuck-

käſtchen zurück.
Am Abend des folgenden Tages ſtanden Laura und

in wegwerfendem Ton.

Bertha in lang ſchleppenden weißen Kleidern, Roſen und-
andere zarte Blumen im Haar, hier und da an den Falten

und Spitzen der eleganten Gewänder herumzupfend, mit.

ſchmollenden Mienen vor dem großen Spiegel im Em-
pfangszimmer. ö ö
„Ich begreife gar nicht, was ſie dort will,“ ſagte Laura-
„Seit Mama's Tod hat ſie keine
Geſellſchaft beſucht; das ſind nun gerade zehn Jahr —

die kleine, alte Jungfer!“

„Ich möchte wirklich wiſſen, ob ſie in ihrem Alter noch-

auf die Männerjagd gehen will,“ meinte Bertha. „Sie iſt.

doch ſicher dreißig Jahr,“ und die achtzehnjährige Schöne
ſchütlelte bei dem Gedanken, in ſo vorgerücktem Alter noch-
Eroberungen machen zu wollen, verächtlich die Locken.
Tante Fanny, der Gegenſtand dieſer unfreundlichen
Bemerkungen, welche während der letzten zehn Jahren bei
den zwei Töchtern ihrer Schweſter Mutterſtelle vertreten
hatte, wartete indeſſen in ihrem Zimmer auf ihre Nichten.
Die ſchlanke, zierliche Geſtalt umſchloß ein ſchwarz ſeidenes
Kleid, deſſen ſtrenge Einfachheit durch ſchwere, mit goldenen
Aehren durchwirkte Spitzen gehoben wurde. Ihre runden,
weißen Arme, ſowie den vollen, ſchneeigen Hals ſchmückten.
keine Juwelen, nur in den dicken Flechten ihres ſchwarzen,
glänzenden Haares leuchtete der goldene Aehrenzweig, den
ſie ſeit dreizehn Jahren ſo hochſchäßte. Es lag ein Reiz in
ihren ſanften Zügen, eine Anmuth in ihren weichen Be-
wegungen, eine Muſik in ihrer Stimme, die man bei ihren
Nichten vergeblich ſuchte. Während ſie die Letzteren erwar-
tend daſtaͤnd, ruhten ihre Augen auf einem vergilbten Brief,

den ſie lange zwiſchen ihren Schätzen verborgen gehalten

hatte, und ſie las:
„Theures Mädchen!

Da Du Deinem Vater nicht ungehorſam ſein willſt,
und ich die verlangte Summe zur Deckung der Schulden
meines ſeligen Vaters nicht auftreiben kann, müſſen wir
ſcheiden — ſcheiden, doch nur für einige Zeit; denn mögen
Meere zwiſchen uns liegen, und wir uns keinen Buchſtaben
ſchreiben, ſo wird das unſere Herzen doch niemals von ein-

Hander trennen. Vertraue — vertraue mir, mein ſüßes Lieb!
Denn mögen auch Jahre vergehen, ich kehre, meinem Worte

treu, Dir ſicher zurück. Bewahre den kleinen goldenen
Zweig, den ich Dir zu Deinem Geburtstage zu geben wagte,
daͤmit Du ein Andenken an mich haſt. Ach, mein Lieb
wie ſchwer wird es mir, Dir ein Lebewohl zu ſchreiben!
Doch es muß ſein. Dein feſter Entſchluß, Dich niemals
 
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