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Heiberg, Johan L.
Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften im Altertum — München, 1925

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https://doi.org/10.11588/diglit.23924#0011
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Die griechische Fachwissenschaft, auf die in letzter Linie alle euro-
päische Fachwissenschaft zurückgeht, stammt von den Ioniern her, die
ihren Wissensdrang in dem Nationalhelden Odysseus verkörpert haben,
und von deren realistischer Gesinnung und scharfer Beobachtung die
homerischen Gedichte Zeugnis ablegen. Ihre Berührungen mit der alten
Kultur in Ägypten und Mesopotamien können ihnen höchstens Anregungen
gegeben und Material geliefert haben; Wissenschaft daraus zu machen,
vermochte der von der Religion gebundene Orient nicht: das konnte erst
das geistesfreie Ionien.

Die milesische Naturphilosophie1 schob die mythisch-priesterlichen
Kosmogonien, wie sie uns z. B. in der hesiodeischen Theogonie vorliegen,
ganz beiseite und suchte kühn die Entstehung der Welt aus materiellen
Ursachen und Vorgängen zu erklären. Der Schulstifter Thaies nahm als
Grundstoff das Wasser an, sein Schüler Anaximandros ersetzte es vor-
sichtig mit „t6 äjieiQovu, während sein Nachfolger Anaximenes wieder
an ein reales Element zurückkehrte, die Luft, bei der er die für den
Grundstoff notwendigen Eigenschaften des äneigov wiederfand, und durch
deren Verdichtung und Verdünnung er die Entstehung der Einzeldinge
erklären zu können meinte. Auf demselben Wege ging der originale
Denker Herakleitos 2 aus Ephesos weiter; er dachte sich als Grundstoff
das ewig bewegte Feuer.

Natürlich ist bei diesen alten Denkern manches kindlich und phan-
tastisch, wenn sie auch öfters durch geniale Gedanken überraschen; so
findet man bei Anaximandros, wenn auch in barocker Form, eine Theorie
der Entstehung der Menschen, die an Darwin erinnert (Fr. 30), und Hera-
kleitos kommt dem Begriffe des Naturgesetzes nahe. Aber auch davon
abgesehen, haben sie der Forschung überhaupt Bahn gebrochen, und ihre
Lehre enthielt Keime, woraus sich bald Mathematik, Astronomie und Geo-
graphie selbständig entwickelten. Nur die Physik blieb zu ihrem Nach-
teil in den Händen der Philosophen, so daß nur ihre der Mathematik
zugewandte Seite, die Mechanik, eine Ausbildung wie die der übrigen
Fachwissenschaften erfuhr.3

I. Mathematik

Die älteren Gesamtdarstellungen der Geschichte der Mathematik sind völlig über-
holt durch den Aufschwung dieser Studien in der zweiten Hallte des 19. Jahrhunderts,
eingeleitet von M. Chasles,4 wesentlich gefördert durch Moritz Cantor, der in der
Zeitschrift für) M(athematik und) Ph(ysik) eine besondere „historisch-literarische Ab-
teilung" einrichtete (seit 1875) und als Beihefte dazu „ A.bh(andlungen) (zur) G(e-

1 Die Belegstellen bei H. Diels, Die 4 Apercu historique sur l'origine et h>
Fragmente der Vorsokratiker3, Berlin 1912, developpement des methodes en Geo-
I S. 1—27. metrie, particulierement de celles qui se

2 Ebd. S. 67—102. rapportent ä la Geometrie moderne, Bru-

3 P. Tannery, Pour l'lnstoire de la xelles 1837 (deutsche Uebersetzung von
science hellene. De Thaies a Empedocle. Sohncke, Halle 1839V

Paris 1887.

H. d. A. V. 1. 2. 1
 
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