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Heidelberger Familienblätter — 1879

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No. 1 - No. 8 (4. Januar - 29. Januar)
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geidelberger Lamilienblätter.

Beletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

NO. 5.

Samſtag, den 18. Jauuar

1879.

Ein Blatt aus meinem Skizenbuch.

Novelle von Brigitte Klein.
(Fortſetzung.)
Noch ruhte der graue Morgennebel auf den Bergen,

und ſchon war im chalet ein reges Treiben. Heute

jollte der ſeit Tagen geplante Ausflug auf die Leitenalp
unternommen werden. Pſerde und Tragſeſſel für die
weniger rüſtigen Fußgänger waren auf eine ſpätere Stunde
beſtellt; aber die übrige Geſellſchaft zog mit dem erſten
Frühroth aus, um die in einem Gletſcher angelegte Grotte
auf dem Wege zu beſichtigen. Der Major, ſeine Töchter,
Roſe, die jüngeren Herren des Hauſes, zu denen ſich auch
Klemens geſellt, fanden ſich mit heiterm Morgengruß zu-
ſammen, und muntern Schrittes wanderte man das Thal
hinauf. Jetzt krönte der erſte roſige Tagesſchimmer die
äußerſten Zacken und Kuppen des Gebirges, allmählich
klomm das Sonnenlicht die ſteilen Felswände herab, warf
alitzernde Juwelen in die thalabſtürzenden Waſſer und
Wäſſerchen, legte ſich ſchmeichelnd über die grünen Matten
und ſchmückte die ernſthaften dunklen Tannen mit ſeinem
warmen lachenden Schein. Fröhlich plaudernd ſchritt man
auf dem ſteiler werdenden Pfad dahin — die eiſen-
beſchlagenen Spitzen der Alpenſtöcke klangen luſtig gegen
das Geſtein — der friſche Hauch der reinen Bergluft
fächelte um Stirn und Wangen und weckte in jeder Bruſt
die wonnige Empfindung des Daſeins zu ſeligem Ge-
nießen der ſchönen Gotteswelt. Der maͤchtige Zauber
ihrer heiligen Harmonien hatte auch die Befangenheit
gelöſt, die Roſe in den letzten Tagen bedrückt. Ihre
ſcheue Zurückhaltung gegen Klemens war bei der heutigen
Wanderung in harmloſem Verkehr geſchwunden; ohne
ſich Rechenſchaft darüber zu geben, erfüllte ſie ſeine Nähe
mit Glück und Wonne, und ſie ſprach unbefangen ihr
Entzücken aus über den herrlichen Morgen, die groß-
artige Umgebung und den ſo wohl gelingenden Ausflug.
Nach mehrſtündigem Wandern gelangte man in die
Grotte, zu deren Eingang ſteile in den Gletſcher gehauene
Stufen emporführten. Sie konnten nicht ohne Vorſicht
erklommen werden, und Herren und Führer boten den
Damen ihre ſtützende Hand. In wenigen Minuten trat
man aus dem warm beſchienenen Thal in den eiſigen
Schacht, der wohl vierzig Fuß tief in den Gleiſcher
hineinführte. ö
„Puh, wie kalt!“ rief Chauvier, der für jeden ſinn-
lichen Eindruck krankhaft empfindlich war. Frank warf
ihm ſchnell noch ſein cache-nez um.
„Die ganze Geſchichte kommt mir wie eine Spielerei
vor, und noch dazu eine gefährliche,“ verſetzte der Major,
»„wie leicht können die Eismaſſen einſtürzen, und das
möchte manches Menſchenleben koſten.“
„Beſorgen Sie hier nichts,“ beruhigte der Regie-
runge
„Es iſt feenhaft!“ rief Lili. „Wie durchſi
klar das Eis . hhng und

„Welch eigenthümlicher Gegenſatz zwiſchen dem ſon-

nigen Leben draußen im Thal und dem ſtarren todten
Element, das uns hier umſchließt,“ meinte Käthe.
„Es iſt, als käme man aus der warmen Welt der
Empfindungen in die kalte Region der Reflexion,“ be-
merkte Chauvier froͤſtelnd.
VIch begreife nicht,“ entgegnete Käthe lebhaft, „daß
Sie Empfindung und Reflexion ſtets als ſo getrennte
feindliche Begriffe betrachten — es kann mich immer ver-
drießen, wenn man Gefühl und Verſtand ſo unbedingt
trennen, jeden Menſchen womöglich in die eine oder an-
dere Rubrik verweiſen will.“
ö „Ich beſtreite die gegenſeitige Beeinfluſſung gewiß
nicht — die warme Luft aus dem Thal ſtrömt auch hier
herein, und wie verwandelt ſie ſich unter dem Einfluß
der Umgebung — ich werde mich grenzenlos erkälten!“
„So ſprich doch nicht,“ drängte Frank.
„Sie müſſen ja nun einmal philoſophiren,“ ſeufzte
der Regierungsrath.
„Laſſen Sie uns nicht länger bleiben,“ rieth Doktor
Weber, „komm, Erna,“ und er ſchickte ſich an, ſeine Frau
hinaus zu begleiten. ö
„Aber, Rabenhauſen, wo wollen Sie denn hin?“
rief der Regierungsrath in die Grotte hinein, „ich glaube
der Tollkopf bohrt ſich noch weiter.“ ö
Roſe, die ſich jedem neuen Eindruck ſröhlich und
völlig überließ, war in ſtummem Staunen an den An-
dern vorbeigeeilt und ſtand in der Tiefe der kryſtallnen
Höhle, ſtill in ihren Anblick verſunken. „Wie wunder-
bar, ſo eindringen zu können in die geheimnißvollen Eis-
maſſen, die ſich wie ein erſtarrter Strom langſam aus
den unzugänglichen Höhen in das Thal hinabſenken.“
Ihr fiel der Traum ein, der ihr ein ähnliches Gebilde
vorgegaukelt; ſie fühlte den kalten Hauch, und ihr Auge
ſuchte unwillkürlich die Erſcheinung. Aber anſtatt der
feuchten Nebelsgeſtalt ſchaute ſie in Klemens leuchtendes
Angeſicht. Sie fuhr zurück.
„Fürchten Sie ſich vor mir?“ fragte er lächelnd.
„Nein, heute nicht!“
„So habe ich Sie doch zuweilen erſchreckt und mich
nicht getäuſcht, wenn ich vermuthete, daß Sie mich ver-
mieden.“ ö
„Ich dachte nur ...“
„Was dachten Sie von mir?“
„Daß Sie etwas ſtolz wären und auf mich unbe-
deutendes Ding herabſähen“, erwiderte Roſe zögernd.
5„Stolz! Ich fürchte, Sie haben damit nicht ſo un-
recht — ſtolz, hochmüthig, wenn Sie wollen; aber daß
ich auf Sie, auf Sie, Fräulein Roſe, herabſähe, hatten
Sie wohl nicht Urſache zu glauben. Laſſen Sie mich
geſtehen,“ fuhr er wärmer werdend fort, „was mich ſo
wunderbar an Ihre Erſcheinung feſſelt. Die Augen, die
über meine düſtere Kindheit hätten Glanz breiten können,
haben ſich für mich geſchloſſen, ehe ich zum Bewußtſein

des Daſeins erwacht — ich kenne meine Mutter nur aus

der künſtleriſchen Verkörperung ihrer Züge; doch der ein-
ſame Knabe gewöhnte ſich, bei ſeinen Spielen zu ihrem
Bilde aufzuſchauen, in das der heranwachſende Jüngling
ſich oft ſehnend vertieft — ihre Vergangenheit iſt für

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