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Heidelberger Familienblätter — 1879

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No. 35 - No. 43 (3. Mai - 31. Mai)
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—— — — — —

hewelberger Zamilienblätter.

—GBealetrriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

NO. 35.

Samſtag, den 3. Mai ö 1879.

Mutter und Cochter.
Novelle von L. Haidheim.

(Fortſetzung.)

Gabriele Grodno war das alles ſo recht, ſie wollte
nichts als Ruhe. Bücher hatte ſie mitgebracht, — Schreib-
materialien ebenfalls, für jetzt ging ſie vom Morgen bis
zum Abend in den Wald, das Wetter war herrlich ge-
weſen und blieb es bis zu dem Tage von Liſas Ankunft.
Stundenlang ſaß die vornehme Dame da zum heimlichen
Erſtaunen der Jägerburſchen, welche in der Ferne vorüber-
gingen — und ſah auf das ſonnenbeſchienene Moos zu
ihren Füßen, oder über ſich in das grüne Blättermeer
der Baumwipfel, durch welche nur hier und dort ein
Stäückchen blauen Himmels ſchien und dachte — dachte —
dachte! *
Oder ſie ging bald haſtig und unruhig, bald träu-
mend umher, horchte auf das Flüſtern des Windes in
den Kronen der Bäume, auf den Specht, der den Stamm
behackte, und auf die Vögel, welche in großen Schaaren
ſich zum Abzug nach dem Süden rüſteten.
Und dann war der große Kampf ausgekämpft bis zum
Entſchluß. Gabriele wußte, was ſie thun mußte, und
wollte es thun, — was dann dahinter lag, was ſpäter
kommen würde, was mit ihr werden ſolle, das durfte ſie
noch nicht erwägen.
Jetzt hatte ſie zwiſchen zwei gleich ſchweren Wegen den
ſchwerſten gewählt, weil er der rechte war.
Ihre Angſt und Verzweiflung, Grodno durch ein
offenes Bekennen der Sachlage unglücklich zu machen, war
vor der Ueberzeugung zurückgetreten, daß ſie vor allem
gegen ihn die Pflicht der Wahrheit hatte. Sie hätte längſt
ſprechen ſollen, das wußte ſie wohl; aber wenn ſie erlegen
war vor dieſer Aufgabe und ihren unvermeidlichen Folgen,
war es ein Wunder? Und wenn es denn geſchehen
mußte, ſo ſollte es nun gleich und ganz geſchehen, ſie
traute der eigenen Feſtigkeit nicht recht, deßhalb hatte ſie
hinter ihren Entſchluß alle ihre Energie geſteklt. — Was
ſie ihrem Manne ſchreiben wollte, auch das hatte ſie uber-
legt, darum war ſie ſo unempfindlich gegen das Wetter
geblieben.
Die Oberförſterin begegnete auf dem Hausflur der
W.. die mit ſtummem Gruß an ihr vorüber-
ritt.
„Welch unausſprechlich traurige Augen hat die arme
Frau!“ dachte die Oberförſterin und ſchaute Gabriele
nach, die langſam die Treppe heraufging und dann in
ihrem Zimmer verſchwand.
Hier warf ſie Mantel und Hut achtlos auf einen
Stuhl und mit einer Ruhe, wie ſie vielleicht ein zum
Tode Verurtheilter hat, dem jede Hoffnung geſchwunden
iſt, ſetzte ſie ſich zum Schreiben. Sie ſuchte nicht nach
Worten, nicht nach einer Einleitung, — mit ſicherer Hand
ſchrieb ſie nach ihrer feſten Ueberzeugung das Todesurtheil
für ihr ganzes Lebensglück nieder: ö
„Du haſt mich mit Liebe und Güte überſchüttet, mein

geliebter Mann, dafür bin ich dir Wahrheit ſchuldig,
und wenn ich zuſammen brach vor der furchtbaren Auf-
gabe, ſo ſei milde und bedenke, was es mich koſtete, deine
Liebe aufzugeben! —
„Ich habe dich nicht abſichtlich, nicht wiſſentlich be-
trogen, als ich deine Hand annahm. Du fragteſt mich,
ob Jemand lebe, der ein Recht an mich hätte — und
löſteſt damit meine Seele von dem Bann, der darauf lag.
Wie du mir das Glück boteſt, konnte ich es annehmen,
es lebte Niemand, der an mich einen Anſpruch hatte, nie
war ein ſolcher an mich geſtellt worden. —
„Nun wohl —! Mitten in den vollen Frühling
meines ſpäten Glückes, in der Minute, wo ſie mir den
Brautkranz aufſetzte, warf mir die Friſenſe Pleiderer den
erſten, leichten Schatten, der eine dunkle Zeit meiner
früheſten Jugend heraufbeſchwor; — dann, — das teuf-
liſche Weib hatte klug gewartet, bis ich die Deine gewor-
den war, — dann kam ſie nach deinem Gute und ſagte
mir nicht nur, daß ſie mein Geheimniß kenne, ſondern,
daß das Kind, welches ich nie geſehen, welches nach der
Ausſage meiner Mutter todt war, wie der Vater jenes
Kindes — lebe, daß ſie es kenne, daß ſie es bei ſich habe.
— Sie hatte ſich die Bewahrung des Geheimniſſes mit
ſchwerem Gelde bezahlen laſſen; immer neue Summen
habe ich ihr gegeben, und immer wieder drohte ſie mir,
es dir zu verrathen. — Ich bebte vor ihr wie vor einer
Schlange, und meine Geſundheit widerſtand den unaus-
ſprechlichen Leiden meiner Seele nicht.
„Um meinetwillen hätte ich es als eine Wohlthat
empfunden, dir meine Beichte abzulegen, — aber ich wußte,
du liebteſt mich, du müßteſt mich von dir gehen laſſen
und würdeſt darunter eben ſo leiden wie ich, — du, ohne
Schuld, — durch mich unglücklich gemacht!
„Die Pleiderer wollte mir jenes Mädchen zeigen, ich
habe es nicht ſehen wollen, — Du aber haſt es geſehen,
und es war — trotz allem! — etwas wie Glück und
Befriedigung, daß du Wohlgefallen an ihr gefunden.
„Wer der Vater jenes Mädchens iſt?
„Ich war kaum ſechszehn Jahre alt, er, der Lehrer
meines Bruders. — Auf Veranſtaltung meiner Mutter
wurde er nach Sibirien geſchickt — ſie klagte ihn eines
gemeinen Verbrechens an, er ſchwieg, und als ich aus
ſchwerer Krankheit genas, war er todt.
„Er habe ſich erſchoſſen mit der Flinte eines Sol-
daten, welcher den Transport begleitete, hatte mir meine
Mutter geſagt, ich hatte ihn kaum geliebt, er hatte ſeine
Schuld an mir ſchwer gebüßt und edler, als ich damals
verſtand; ich vergaß ihn und jene Zeit voͤllig.
„Nun weißt du alles! Da ſind auch jene Papiere,
ſe m die Pleiderer mir gab, ſie hat noch mehr, drohte
e mir.
„Was nun kommen muß, weiß ich und weine um
dich und dein Glück mehr noch wie um das eigene! Lebe
wohl, geliebter Mann! Es iſt etwas Schönes, Herr-
liches geweſen um unſern ſpäten Liebesſommer, — und

wie furchtbar auch die Zukunft für mich ſein wird, aus

dem tiefen Dunkel heraus ſehe ich zurück auf unſer Glück
wie auf ein ſonnebeglänztes köſtliches Thal voll Frieden
 
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