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„Was wird deun jeht geſhehens“ fragte der Ruſſe
zitternd, als der Preuße noch drei Schritte von ihm ent-
fernt war.
„Was jetzt geſchehen wird?“ rief luſtig der Preuße,
indem er heide Piſtole aus dem Gürtel zog und auf den
ö „Ein ſchönes Compliment machen wirſt
Ruſſen anſchlug.
Du, Herr Bruder! Duck' Dich, oder ich ſchieß Dich!ꝰ
Ganz gehorſamſt und eiligſt duckte ſich der Ruſſe —
der Preuße voltigirte über ihn hinweg — entlud im
Sprunge die Piſtolen — ließ zugleich die Pilgerkutte fallen
— und Kolter ſtand in glänzender Rüſtung, ſchön und
männlich wie ein Kriegsgott, da.
Ein Applaus, daß die Erde erbebte, lohnte den Sieg
und Kolter wurde wie ein Triumphator gefeiert.
Aber die beiden Majeſtäten mochten ſich denken: Von
der Ehre allein wird man nicht fett — ſie ſprachen ihm
daher eine Penſion zu, die ihn ſicher ſo fett wie einen
Bierbräuer gemacht hätte, das heißt — wenn er nicht ſchon
auf dem Faden der Parze in den Himmel getanzt wäre.
Grantf Wr.
Ein Beſuch in Em.
WVon Alfred Meißner.
Donnerſtag, 15. Sept.
Den geſtrigen Tag, den dritten nach der Kataſtrophe,
habe ich bei herrlichem Wetter zu einem Ausfluge nach
der Unglücksſtätte von Elm benützt. Sieht man ſich auf
der Karte die kurze Spanne Raumes an, wird man kaum
glauben, daß man vom Bodenſee aus trotz aller Benützung
der Eiſenbahn anderthalb Tage zur Erreichung des Zieles
braucht.
Um gleich bei grauendem Morgen weiter zu können,
hatte ich den Abend zuvor nach Lindau, von da hinüber
nach Rorſchach und auf der Rheinthal⸗Linie weiter nach
Sargans fahren müſſen. Die Schweiz hat keine Nachtzüge,
denn ſie bedenkt ihre Hoteliers. Jeder Menſch auf ihrem
Grund und Boden ſoll unter einem Dache ſchlafen. Nach
wenig Stunden Schlafes war ich wieder auf den Füßen,
der Himmel verſprach Gutes.
Von Sargans,
Linth⸗Linie, gelangt man bald an die Ufer des Wallenſees.
Er liegt melancholiſch da zwiſchen ſeinen grauen Fels-
mauern; von Murg bis Untertrogen jagt der Zug durch
zahlreiche Tunnels. Ich ziehe mich in eine Ecke zurück
und gedenke Heinrich Simon's, der in dieſen Wellen ſein
Grab gefunden.
Gegen Sieben war ich in Weſen dem Knotenpunkte
nach Zürich und Glarus. Ich benütze einen einſtündigen
Aufenthalt zu einem Gange nach dem romantiſch gelegenen
Kloſter Mariahalden und mache auch dem Hotel „zum
Speer“ meinen Beſuch. Alles erinnert mich an längſt
vergangene, aber unerfreuliche Zeit. Die „Penſion“, die
ich gleichſam in ihrem Kindesalter gekannt, iſt zur ſtatt-
lichen Dame herangewachſen, nun aber von den ſommer-
lichen Gäſten bereits verlaſſen. Vorgeſtern hatte das Haus
noch 16 Gäſte, heute iſt die Zahl derſelben auf ſechs
herabgeſchmolzen, in einigen Tagen vielleicht wird hier
ſchon geſchloſſen.
„Endlich geht es nach Glarus weiter. Auch dieſe Stadt
habe ich lange nicht geſehen. Damals war ſie kahl und
uniform aus dem Schutte des großen Brandes erſtanden,
heute ſehe ich den Platz zwiſchen Bahnhof und Stadt durch
wunderſchöne Anlagen verziert. Aber der düſtere Charakter
des Ortes am Fuße des großartigen, finſteren, Glärniſch
iſt nicht zu mildern.
Um nach Gſchwanden weiterzufahren, abermaliges Um-
ſteigen; man kommt von der Vereinigten Schweizer Bahn
enorm, Alles will nach Elm;
dem Gabelpunkte der Rheinthal⸗ und
Das Gehränge in der Halle iſt
die Waggons werden ge-
ſtürmt, wie an einem Schützen⸗ oder Sängertage. In
Gſchwanden, das man bald erreicht, abermals eine bedeu-
tende Fabriksſtadt zwiſchen ſchauerlich wild aufſtarrenden
Bergen, heißt es die Bahn verlaſſen und einen Wagen
ſuchen. Viele Gefährte aller Gattung und Beſchaffenheit
ſtehen auf dem Platze; für die Menge derer, die da ſuchen
weiterzukommen, iſt aber ihre Zahl zu gering. Die Poſt
mit ihren Beichaiſen iſt ſchon beſetzt, Leiterwagen werden
ein geſuchtes Vehikel, doch auch an dieſen gebricht es.
Viele, die mit Fahrabſichten gekommen, müſſen ſich ent-
ſchließen, die drei guten Stunden bis Elm zu Fuß zurück-
zulegen. Ich habe es als großen Glücksfall zu betrachten,
daß ich in den Wagen eines jungen Mannes aus Gſchwanden
einſteigen konnte, der große Kiſten mit Bouquets, d. h.
Blumenſpenden für das Grab ſeiner Verwandten mit ſich
nimmt.
Von Gſchwanden nach Elm führt eine jener vortrefflich
angelegten Poſtſtraßen, auf welche die Schweiz ſtolz ſein
darf. Sie ſteigt das ſchluchtähnliche Thal, in deſſen Tiefe
auf die Nooſtbahn.
die wilde Sernft brauſt, langſam und vorſichtig hinan.
Einzelne ſchön gearbeitete Steine bezeichnen die Brüſtung,
die ja auch einen ernſten Sturz in die Tiefe nicht auf-
halten könnte. Zu beiden Seiten bilden grüne Matten,
allenthalben mit hausgroßen Blöcken beſäet, den Abhang,
darüber ſteigen Wälder empor und furchtbare Felsmauern.
Eine ſchöne Ausſicht folgt der anderen. Zurückſehend ge-
gen Gſchwanden hat man einen Blick auf ganz weiße, ſil-
bern blitzende Gebirge, das ſind die Clariden; ganz ver-
glätſcherte Rieſenwildbäche ſstäuben von der Höhe nieder,
ihr Waſſer in der Tiefe mit dem der Sernft zu vereinigen.
Dieſe Bergwildniß trägt aber alle Zeichen der Civiliſation:
Webereien, Spinnereien benützen die Waſſerkraft. In Engi,
wo ſich das Thal erweitert, erblickt man ſtattliche Fabriken,
mit Gärten umgebene Häuſer, ein ſchloßähnliches Schul-
haus. Man nähert ſich den „letzten Dörfern“, aber es
ſind nicht Dörfer wie in Tirol, Piemont oder Savoyen.
Unſer raſcher Wagen hatte die Fußwanderer und die
längſt vorausgegangene Poſt überholt; er wäre allen übri-
gen Gefährten vorangekommen, wenn nicht eines unſerer
Pferde geſtürzt wäre, wobei es ſich beide Kniee blutig ge-
ſchlagen. In Engi muß dem armen Thier die Wunde
gewaſchen und mit Holzkohle eingerieben werden. Ein ſol-
cher Unfall, eine Elle ſeitwärts vom Abgrunde, erregt im-
mer einige Gemüths⸗Alterationen.
Es iſt Mittag geworden, ein Tag von herrlicher Klar-
heit, wahrlich im ſchärfſten Contraſte ſtehend zu dem trau-
rigen Ziele, dem wir zuſtrömen. Der „Friede der Natur“
blickt uns an. Indeß hat ſich ein ungeheurer Gebirgsſtock
vor uns aufgeſtellt. Sein unterer Theil iſt mit Matten
bedeckt, der höhere bewaldet, oben geht er in ganz verwit-
terten, phantaſtiſch gezackten Hörnern aus. Das ſind die
Tſchingelhörner „darin das berühmte Martinsloch, durch
welches drei Tage im März die Sonne zu ſehen iſt. Auf
der Flanke des Berges hat eine theils braune, theils aſch-
graue Fläche ſchon lange meine Aufmerkſamkeit erregt.
Aus der Mitte derſelben dampft es fortwährend in die
Höhe. Dieſe Fläche, etwa 1500 bis 2000 Fuß über der
Thalſohle, iſt die Abbruchſtelle, und die aſchgraue, wallende,
quirlende Wolke iſt der aufſteigende Staub, weil der Berg
noch immer in „Bewegung“ iſt.
Wir ſind beim Dorfe Matt. Hier iſt die Straße, die
ja bald unpraktikabel wird, für Fuhrwerke abgeſperrt. Es
gilt ausſteigen und längs der grünen Berghalde auf einem
in den letzten Tagen gebahnten Steige uns der Unglücks-
ſtätte nähern. In einem Zuge von mehreren hundert Per-
ſonen gehen wir am Waldesſaum über Stock Aud Stein ö
vorwärts.
„Was wird deun jeht geſhehens“ fragte der Ruſſe
zitternd, als der Preuße noch drei Schritte von ihm ent-
fernt war.
„Was jetzt geſchehen wird?“ rief luſtig der Preuße,
indem er heide Piſtole aus dem Gürtel zog und auf den
ö „Ein ſchönes Compliment machen wirſt
Ruſſen anſchlug.
Du, Herr Bruder! Duck' Dich, oder ich ſchieß Dich!ꝰ
Ganz gehorſamſt und eiligſt duckte ſich der Ruſſe —
der Preuße voltigirte über ihn hinweg — entlud im
Sprunge die Piſtolen — ließ zugleich die Pilgerkutte fallen
— und Kolter ſtand in glänzender Rüſtung, ſchön und
männlich wie ein Kriegsgott, da.
Ein Applaus, daß die Erde erbebte, lohnte den Sieg
und Kolter wurde wie ein Triumphator gefeiert.
Aber die beiden Majeſtäten mochten ſich denken: Von
der Ehre allein wird man nicht fett — ſie ſprachen ihm
daher eine Penſion zu, die ihn ſicher ſo fett wie einen
Bierbräuer gemacht hätte, das heißt — wenn er nicht ſchon
auf dem Faden der Parze in den Himmel getanzt wäre.
Grantf Wr.
Ein Beſuch in Em.
WVon Alfred Meißner.
Donnerſtag, 15. Sept.
Den geſtrigen Tag, den dritten nach der Kataſtrophe,
habe ich bei herrlichem Wetter zu einem Ausfluge nach
der Unglücksſtätte von Elm benützt. Sieht man ſich auf
der Karte die kurze Spanne Raumes an, wird man kaum
glauben, daß man vom Bodenſee aus trotz aller Benützung
der Eiſenbahn anderthalb Tage zur Erreichung des Zieles
braucht.
Um gleich bei grauendem Morgen weiter zu können,
hatte ich den Abend zuvor nach Lindau, von da hinüber
nach Rorſchach und auf der Rheinthal⸗Linie weiter nach
Sargans fahren müſſen. Die Schweiz hat keine Nachtzüge,
denn ſie bedenkt ihre Hoteliers. Jeder Menſch auf ihrem
Grund und Boden ſoll unter einem Dache ſchlafen. Nach
wenig Stunden Schlafes war ich wieder auf den Füßen,
der Himmel verſprach Gutes.
Von Sargans,
Linth⸗Linie, gelangt man bald an die Ufer des Wallenſees.
Er liegt melancholiſch da zwiſchen ſeinen grauen Fels-
mauern; von Murg bis Untertrogen jagt der Zug durch
zahlreiche Tunnels. Ich ziehe mich in eine Ecke zurück
und gedenke Heinrich Simon's, der in dieſen Wellen ſein
Grab gefunden.
Gegen Sieben war ich in Weſen dem Knotenpunkte
nach Zürich und Glarus. Ich benütze einen einſtündigen
Aufenthalt zu einem Gange nach dem romantiſch gelegenen
Kloſter Mariahalden und mache auch dem Hotel „zum
Speer“ meinen Beſuch. Alles erinnert mich an längſt
vergangene, aber unerfreuliche Zeit. Die „Penſion“, die
ich gleichſam in ihrem Kindesalter gekannt, iſt zur ſtatt-
lichen Dame herangewachſen, nun aber von den ſommer-
lichen Gäſten bereits verlaſſen. Vorgeſtern hatte das Haus
noch 16 Gäſte, heute iſt die Zahl derſelben auf ſechs
herabgeſchmolzen, in einigen Tagen vielleicht wird hier
ſchon geſchloſſen.
„Endlich geht es nach Glarus weiter. Auch dieſe Stadt
habe ich lange nicht geſehen. Damals war ſie kahl und
uniform aus dem Schutte des großen Brandes erſtanden,
heute ſehe ich den Platz zwiſchen Bahnhof und Stadt durch
wunderſchöne Anlagen verziert. Aber der düſtere Charakter
des Ortes am Fuße des großartigen, finſteren, Glärniſch
iſt nicht zu mildern.
Um nach Gſchwanden weiterzufahren, abermaliges Um-
ſteigen; man kommt von der Vereinigten Schweizer Bahn
enorm, Alles will nach Elm;
dem Gabelpunkte der Rheinthal⸗ und
Das Gehränge in der Halle iſt
die Waggons werden ge-
ſtürmt, wie an einem Schützen⸗ oder Sängertage. In
Gſchwanden, das man bald erreicht, abermals eine bedeu-
tende Fabriksſtadt zwiſchen ſchauerlich wild aufſtarrenden
Bergen, heißt es die Bahn verlaſſen und einen Wagen
ſuchen. Viele Gefährte aller Gattung und Beſchaffenheit
ſtehen auf dem Platze; für die Menge derer, die da ſuchen
weiterzukommen, iſt aber ihre Zahl zu gering. Die Poſt
mit ihren Beichaiſen iſt ſchon beſetzt, Leiterwagen werden
ein geſuchtes Vehikel, doch auch an dieſen gebricht es.
Viele, die mit Fahrabſichten gekommen, müſſen ſich ent-
ſchließen, die drei guten Stunden bis Elm zu Fuß zurück-
zulegen. Ich habe es als großen Glücksfall zu betrachten,
daß ich in den Wagen eines jungen Mannes aus Gſchwanden
einſteigen konnte, der große Kiſten mit Bouquets, d. h.
Blumenſpenden für das Grab ſeiner Verwandten mit ſich
nimmt.
Von Gſchwanden nach Elm führt eine jener vortrefflich
angelegten Poſtſtraßen, auf welche die Schweiz ſtolz ſein
darf. Sie ſteigt das ſchluchtähnliche Thal, in deſſen Tiefe
auf die Nooſtbahn.
die wilde Sernft brauſt, langſam und vorſichtig hinan.
Einzelne ſchön gearbeitete Steine bezeichnen die Brüſtung,
die ja auch einen ernſten Sturz in die Tiefe nicht auf-
halten könnte. Zu beiden Seiten bilden grüne Matten,
allenthalben mit hausgroßen Blöcken beſäet, den Abhang,
darüber ſteigen Wälder empor und furchtbare Felsmauern.
Eine ſchöne Ausſicht folgt der anderen. Zurückſehend ge-
gen Gſchwanden hat man einen Blick auf ganz weiße, ſil-
bern blitzende Gebirge, das ſind die Clariden; ganz ver-
glätſcherte Rieſenwildbäche ſstäuben von der Höhe nieder,
ihr Waſſer in der Tiefe mit dem der Sernft zu vereinigen.
Dieſe Bergwildniß trägt aber alle Zeichen der Civiliſation:
Webereien, Spinnereien benützen die Waſſerkraft. In Engi,
wo ſich das Thal erweitert, erblickt man ſtattliche Fabriken,
mit Gärten umgebene Häuſer, ein ſchloßähnliches Schul-
haus. Man nähert ſich den „letzten Dörfern“, aber es
ſind nicht Dörfer wie in Tirol, Piemont oder Savoyen.
Unſer raſcher Wagen hatte die Fußwanderer und die
längſt vorausgegangene Poſt überholt; er wäre allen übri-
gen Gefährten vorangekommen, wenn nicht eines unſerer
Pferde geſtürzt wäre, wobei es ſich beide Kniee blutig ge-
ſchlagen. In Engi muß dem armen Thier die Wunde
gewaſchen und mit Holzkohle eingerieben werden. Ein ſol-
cher Unfall, eine Elle ſeitwärts vom Abgrunde, erregt im-
mer einige Gemüths⸗Alterationen.
Es iſt Mittag geworden, ein Tag von herrlicher Klar-
heit, wahrlich im ſchärfſten Contraſte ſtehend zu dem trau-
rigen Ziele, dem wir zuſtrömen. Der „Friede der Natur“
blickt uns an. Indeß hat ſich ein ungeheurer Gebirgsſtock
vor uns aufgeſtellt. Sein unterer Theil iſt mit Matten
bedeckt, der höhere bewaldet, oben geht er in ganz verwit-
terten, phantaſtiſch gezackten Hörnern aus. Das ſind die
Tſchingelhörner „darin das berühmte Martinsloch, durch
welches drei Tage im März die Sonne zu ſehen iſt. Auf
der Flanke des Berges hat eine theils braune, theils aſch-
graue Fläche ſchon lange meine Aufmerkſamkeit erregt.
Aus der Mitte derſelben dampft es fortwährend in die
Höhe. Dieſe Fläche, etwa 1500 bis 2000 Fuß über der
Thalſohle, iſt die Abbruchſtelle, und die aſchgraue, wallende,
quirlende Wolke iſt der aufſteigende Staub, weil der Berg
noch immer in „Bewegung“ iſt.
Wir ſind beim Dorfe Matt. Hier iſt die Straße, die
ja bald unpraktikabel wird, für Fuhrwerke abgeſperrt. Es
gilt ausſteigen und längs der grünen Berghalde auf einem
in den letzten Tagen gebahnten Steige uns der Unglücks-
ſtätte nähern. In einem Zuge von mehreren hundert Per-
ſonen gehen wir am Waldesſaum über Stock Aud Stein ö
vorwärts.