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Heidelberger Familienblätter — 1881

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Nr. 70 - Nr. 77 (3. September - 28. September)
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Hridelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Seitung.

Ar. 2.

Mittwoch, den 28. September

Auf dem Zeil.
Der alte Schauſpieldirector Bree ſaß in ſeinem Cabinet

im mecklenburger Städtchen Schwed und drehte dem Kaiſer
Napoleon eine Naſe, — d. h. dem Napoleon von Auſter-

litz, denn der Napoleon von Sedan ließ ſich keine Naſe

drehen, der drehte ſie lieber Andern.
Auch war der Letztere noch eine ganz kleinwinzige Epi-
ſode im großen Drama der Weltgeſchichte, denn mein Held
ſpielt im Congreß zu Aachen ſeine Rolle.
Alſo der alte Schauſpieldirector Bree ſaß in ſeinem

Wachsfiguren⸗Cabinet in Schwed und beſſerte das Geſicht

des Kaiſers Napoleon I. aus.
Wie kommt denn ein Schauſpieldirector zu einem Wachs-
figuren⸗Cabinet? wird man vielleicht fragen.
O, es war ein merkwürdiges Völkchen, dieſe Familie
„Bree“. Papa Bree war weder Bildhauer noch Maler,
— er hatte nicht einmal zeichnen gelernt und einzig und
allein ſeine Kunſt der Natur abgelauſcht, der er ihre zwei-
beinigen Werke mit überraſchender Wahrheit nachzubilden
verſtand.

Herr Director Bree war auch Wachsfiguren⸗Fabrikant.

Madame Bree war Schauſpielerin und Kapellmeiſter
der Truppe.
Julius Bree, der Sohn, war einer der geſchickteſten
Kunſtreiter ſeiner Zeit.
Demoiſelle Bree, die Tochter, war im zwanzigſten Jahre
ſchon glückliche Mutter fünf lebendiger Kinder.
Madame Kolter, geborene Bree, die jüngere Tochter,
war eine Virtuoſin auf dem Brummeiſen.
Herr Kolter endlich, der Schwiegerſohn des Herrn Di-
rectors, war ein Seiltänzer, der ein zweiter Napoleon ge-
worden wäre, wenn er mit dieſer Tollkühnheit auf dem
Schlachtfelde getanzt hätte, ſtatt auf dem Seil.
Man ſieht alſo, wir haben es hier mit einer Univerſal-
Künſtlerfamilie zu thun.

„Wie geht's mit dem Fuß, Kolter?“ fragte Bree ſeinen

eintretenden Schwiegerſohn, der ſich vor einigen Monaten
zum dritten Mal ein Bein gebrochen hatte.
„Paſſabel, aber bei ſchlechtem Wetter iſt er noch re-
belliſch, Schwiegerpapa.
legen zu können.“ ö

„Nothwendig wär's!“ ſeufzte der Alte, indem er dem

Kaiſer Napoleon mit einem ſchmutzigen Fetzen die Naſe
putzte. „Nothwendig wär's, daß wir wieder einmal ein
öffentliches Spektakel gäben. Die Kunſt zwiſchen vier Wän-
den zieht nicht mehr. Wir können das tägliche Brod kaum
erſchwingen, und wie der edle Gerſtenſaft ſchmeckt, habe ich
ſeit Jahr und Tag vergeſſen.“
„Armer Vater,“ ſeufzte mit dieſem der Seiltänzer.

„Wenn ich nur ein Seil bis zum Himmel ſpannen könnte,

bei meiner Seele, ich kündigte eine Ascenſion zum Monde
an, um endlich einmal einen guten Riß zu machen! O,
noch lebt Kolter, und ſo lange man noch Seile ſpinnt,
darf ihm der Faden nicht ausgehen!“
In dieſem Augenblick trat ſtaubbedeckt ein königlicher

Ich hoffe indeß, bald wieder los-

Courier in's Cabinet und die beiden Künſtler blickten den
überraſchenden Gaſt mit tellergroßen Augen an.
„Ich erſcheine auf Befehl des Königs, Herr Kolter!“
ſagte der Courier, „Seine Majeſtät wünſchen eine Ihrer
Kunſtproductionen in Aachen zu ſehen, falls Sie dazu dis-
ponibel und vorbereitet ſind..
„O — dieſe allerhöchſte Gnade —“ ſtammelte der
Seiltänzer.
„Aber bedenken Sie, es gilt, die Ehre Ihrer Kunſt zu
retten und Seiner Majeſtät eine Wette zu gewinnen. Der
Kaiſer Alexander behauptet nämlich, Loſizky in Petersburg
ſei der Meiſter aller Seiltänzer, indeß Friedrich Wilhelm III.
Ihnen den Vorzug gibt. Loſizky iſt bereits auf dem Wege
nach Aachen und ſoll nicht erfahren, daß Sie dort als ſein
Rivale erſcheinen werden. Es iſt jetzt Ihre ehrenvolle
Aufgabe, Ihren Gegner aus dem Felde zu ſchlagen. Aber
ſchnell — ſchnell — eine Extrapoſt ſteht bereits zu Ihrer
Verfügung, und hier iſt Reiſegeld, falls Sie deſſen be-

dürfen.“

Der Courier reichte dem Künſtler eine volle Börſe,
deren Inhalt dieſer in aller Eile mit dem Schwiegervater
theilte, ſeine ſieben Sachen zuſammenpackte und nach ein
paar Minuten ſchon den Staub auf der Straße ſchluckte.
Der Platz vor dem großen Dome in Aachen war mit
Menſchen aller Nationen beſäet.
Kopf an Kopf ſtanden die Schauluſtigen, — alle Fen-
ſter ringsumher waren mit Damenköpfen illuſtrirt, denn
der berühmte ruſſiſche Seiltänzer Peter Loſizkty ſollte ohne
Balancirſtange bis zur oberſten Luke des Thurmes ſteigen,
der in ſeiner Höhe ſelbſt den Zuſchauer ſchwindeln machte.
Auch munkelte man hier und dort von einer ganz beſon-
deren Ueberraſchung, die Ihre Majeſtäten dem Publikum
vorbereitet haben, — alſo genug, um die Erwartungen
noch ſtraffer als das Thurmſeil zu ſpannen.
Auf den Wällen donnerten drei Kanonenſchüſſe als
Signal. Nach dem dritten Schuß fiel die Regimentsmuſik
ein — und Loſizky, in leichter, reicher ruſſiſcher National-
tracht, ſprang aus einem zierlichen Zelte auf das Seil,
verneigte ſich lächelnd nach allen Seiten und trat dann
ſicher und grazizs ſeine gefährliche Promenade an.
Aber als er ungefähr die Hälfte ſeiner Reiſe zurück-
gelegt hatte und wie ein Adler in den Wolken über den
unzähligen Köpfen des Publikums ſchwebte trat aus
der oberſten Luke des Thurmes ein anderer Wandersmann
heraus — es war ein leichtgeſchürzter Pilger mit zwei
Piſtolen im Gürtel — und der Teufelskerl ſpazierte ganz

ungenirt dem Ruſſen entgegen, als ob das geſpannte Seil

eine gepflaſterte Straße wäre, auf der Einer dem Andern
kinderleicht ausweichen oder rechtsum Kehrt machen kann,
wenn man ein Bischen gefällig ſein will.
Die Muſik verſtummte — alle Zuſchauer ſchanderten
und wagten kaum zu athmen — der Ruſſe kratzte ſich bald
hinter dem linken, bald hinter dem rechten Ohr und mochte
etwa grübeln, ob das Halsbrechen eine angenehme oder
unangenehme Empfindung wäre — aber der ſpitzbübige
Pilger hüpfte immer näher und näher, als ob er ſich freue,
einen Kameraden zum Halsbrechen zu finden.
 
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