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Heidelberger Familienblätter — 1881

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Nr. 87 - Nr. 95 (2. November - 30. November)
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Hridelberger Familirnblätter.

Weletriliſhe Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ur. 87.

Mittwoch, den 2. November

1881.

Reden lei der Leichenfeier des F Geheinnuthes
Dr. J. C. Bluntſchli

am 24. Oct. 1881.

1. Rede des Herrn Stadtpfarrers W. Hünig.

Hochanſehnliche Trauerverſammlung!
Selten hat ein Tod uns ſo tief erſchüttert wie dieſer.
Ein Mann, deſſen Wirken mit den verſchiedenartigſten
Zweigen unſeres öffentlichen Lebens ſo innig verwachſen
war, daß wir noch kaum im Stande ſind, dieſes ohne ihn
zu denken, iſt plötzlich, ſo unerwartet plötzlich aus dem Le-
ben geſchieden. Vor wenigen Tgaen hatte er noch an den
Verhandlungen der hieſigen ſtädtiſchen Collegien mit ganzer
Kraft theilgenommen, ſeit vier Wochen ſtand er als Präſi-
dent der Generalſynode in voller, angeſtrengter Arbeit, eben
hat er mit ungeſchwächter Friſche die Synode mit einer

kräftigen Rede geſchloſſen, da trifft ihn der jähe Tod.

Wohl war er ein Greis von 74 Jahren, aber ſeinem
„Geiſte und ſeiner Lebenskraft nach war er kein Greis,
ſondern ein Mann, den wir Alle nie anders als im vollſten
Leben und in vollſter Thätigkeit zu ſchauen gewohnt waren.
Selten war die Klage um den Verluſt eines Mannes
eine in den verſchiedenſten Kreiſen ſo herzliche. Wer hat
denn auch an ihm nichts verloren? Die Univerſität beklagt
eines ihrer älteſten und angeſehenſten Mitglieder. Der
Staat und der Fürſt des Landes betrauern einen der ver-
dienſtvollſten und hervorragendſten Staatsmänner. Die Ge-
meinde Heidelberg hat einen der thätigſten Bürger nicht
mehr, deſſen Rath und Arbeit ihr von hohem Werthe war.
Die Kirche verliert einen Mann, der einen großen Theil
ſeiner Kraft der Löſung der kirchlichen Fragen geweiht hat,
die Landeskirche den-langjährigen Präſidenten ihrer oberſten
Vertretung, der er den Stempel ſeines weiten und verſöhn-
lichen Geiſtes aufgeprägt hat. Das Volk beklagt einen der
populärſten Männer, welcher mit dem Volk dachte und
fühlte und die Sprache des Volkes redete. Die Schweiz
und Deutſchland, welche bisher wetteiferten im Stolze auf
den Beſitz dieſes Mannes, wetteifern in der Klage über
ſeinen Verluſt. Alle gebildeten Nationen der Welt beklagen
einen Mann, deſſen Wirken weit über die Landesgrenze
hinausreichte, der über den Gegenſätzen der Nationen die
Fahne der Gerechtigkeit, des Friedens und der Humanität
hochhielt. Und wo iſt irgend eine humane Beſtrebung, ir-
gend eine Geſellſchaft oder ein Verein für edlere Zwecke,
dem er nicht angehörte, deſſen Leiter und Seele er nicht ge-
weſen iſt?
Seit 50 Jahren ſteht der Mann auf der Bühne des
öffentlichen Lebens. Seit 50 Jahren gibt es keine große
Frage, an deren Löſung er nicht für ſich oder öffentlich
gearbeitet hätte. Die ganze Geſchichte dieſes halben Jahr-
hunderts, ja die ganze Culturgeſchichte ſpiegelt ſich im Le-
ben dieſes Mannes wieder. In den drei Staaten, denen
er im engeren Sinne angehörte, der Schweiz, Baiern, Ba-
den, iſt ſein Name mit der politiſchen Entwicklung unauf-
löslich verflochten. In den wichtigſten Momenten, den
entſcheidungsvollſten Entwicklungsperioden iſt er berufen

ein ſo bielgeſtaltetes, ſo vielumfaſſendes war?

Kleinen auf das Große.

Staatsmann, aber auch hier charakteriſirt ihn das:

geweſen, mit einzugreifen und ſegensvoll ſeine Kraft zur
Geltung zu bringen. Und wer kann ſich die Entwicklung

der kirchlichen Fragen, beſonders in den letzten zwanzig

Jahren, denken ohne den Namen Bluntſchli? Für die
kirchenpolitiſchen Kämpfe, für die Beſtrebungen innerhalb
der proteſtantiſchen Kirche während dieſer Periode iſt
Bluntſchli eine geradezu typiſche Geſtaͤlt. Er iſt die leben-
dige Verkörperung all des Ringens und Strebens, welches
in dieſer Zeit das kirchliche Leben charakteriſirt und man
wird ſich dieſer Entwicklung nicht erinnern können, ohne
ſeines Namens zu gedenken. Und was in dieſem langen
Wirken das Merkwürdigſte iſt: nie wurde der Mann ein
alter, ein veralteter; mit jeder neuen Zeit war er auch im-
mer wieder ein neuer, mit jeder neuen Aufgabe war ſeine
Kraft eine verjüngte!
Wie ſollen wir einen Mann beſchreiben, deſſen Leben
Ich wüßte
kein Wort, welches tiefer und zutreffender das Weſen dieſes
Mannes ſchilderte als jenes Wort, mit welchem einſt der
große Apoſtel die Weite und Größe des chriſtlichen Geiſtes
beſchrieben hat. „Alles iſt Euer!“ ruft er einmal aus
(1 Kor. 3, 21). Alles, das ganze Leben, die ganze Welt
in ihrer Manchfaltigkeit gehört dem chriſtlichen Geiſte,
Alles ſoll er berühren, Alles erfüllen.
„Alles iſt Euer“, das iſt in einem kurzen Worte das
Weſen und Wirken, das in dieſem Sarge ſein Ende ge-
funden. Dieſer Mann hat Allen gehört, weil Alles ihm
gehört hat. Seinem klaren Auge lag die ganze Welt offen,
ſein weites Herz umfaßte die weiteſten Gegenſätze, ſein

Streben war ein univerſelles, das ganze Leben umſpannen-

des — Wiſſenſchaft und Kunſt, Religion und Politik, Staat
u. Gemeinde, Philoſophie u. praktiſches Leben — Alles lag
ihm nahe, für Alles hatte er Verſtändniß und Empfäng-
lichkeit, auf allen Gebieten hat er gelebt, auf allen ge-
arbeitet! Durch ſeinen Beruf war er in erſter Linie ein
Mann der Wiſſenſchaft, er lebte in ihr mit vollem Herzen
und hervorragend ſind ſeine Leiſtungen. Aber zwei charak-
teriſtiſche Züge trug ſein wiſſenſchaftliches Arbeiten. Das
eine war der Zug vom Einzelnen auf das Ganze, vom
Er beſchränkte ſich nicht auf eine
er verweilte nicht bei Fragen, welche
keine größere Bedeutung hatten. Das ganze Gebiet des
Wiſſens lag vor ihm ausgebreitet, aus allen Gebieten
holte er das Bedeutſamſte, überall pflückte er die Blumen
zu dem Kranze ſeiner ganz univerſellen Bildung. Der an-
dere Zug war die Richtung zum Leben. Es gab für ihn
kein Wiſſen, das nur als Wiſſen Befriedigung gibt, kein
unfruchtbar, todtes Wiſſen, ſein geiſtiges Arbeiten glich dem
grünen Baume, an deſſen tauſend Zweigen die koſtbaren
Früchte des Lebens reifen. — Er war Politiker Ales
1 es
iſt Euer“. Denn aus dem vollen Leben ſchöpfte er, und
für das ganze Leben arbeitete er. Seine allgemeine Welt-
anſchauung, ſeine wiſſenſchaftlichen Erkenntniſſe zogen ihm
die Grundlinie ſeines Wirkens, welche im letzten Ziele im-
mer die Bahn der Freiheit war; aber nie iſt er mit vorgefaß-

Einzelwiſſenſchaft,

Iten Meinungen, nie mit unbeugſamen Doctrinen an die poli-
 
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