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Hoernes, Moritz
Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa: von den Anfängen bis um 500 vor Christi — Wien: Druck und Verlag von Adolf Holzhausen, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.62929#0098

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Die Kunst im Zeitalter des reinen Jägerthums.

5. Das Alter der Quartärzeit und der folgenden Culturperioden.
So oft man versucht, prähistorische Erscheinungen mit geschichtlichen ge-
netisch zu verknüpfen, wird sich stets die Frage nach dem absoluten Alter der
ersteren einstellen. Wie alt ist denn nun eigentlich die Quartärkunst, die Kunst
der Mammuth- und der Renthierzeit? Wären die Zeugnisse derselben historische
Documente im engeren Sinne, so hätte man volles Recht, diese Frage stets iu
den Vordergrund zu stellen. Aber prähistorische Funde sind keine Documente
solcher Art. Ihre Alterthümlichkeit ist oft viel grösser als ihr absolutes Alter.
Diesen Werth theilen sie mit vielen Erscheinungen, welche die Ethnologie bei
den Naturvölkern beobachtet.
Nur die paläolithischen Denkmäler Europas machen hier eine Ausnahme.
Sie gelten nach einer fast allgemein herrschenden Ueberzeugung nicht nur für
alterthümlich, sondern für äusserst alt und für vorgeschichtlich im strengsten
Sinne des Wortes. Entgegen dieser allgemeinen Auffassung nennt es jedoch
Alexander Bertrand1) eine reine Hypothese, dass die quartären Höhlenfunde
von einer Jahrtausende umspannenden Entwicklungsphase herrühren, und dass
diese Zeit eine der ersten Culturstufen der Menschheit gewesen sei. Die Höhlen-
bewohnung sei selbst auf primitiven Stufen stets nur eine Ausnahmserscheinung
von localer Geltung, welche sich bei gewissen Stämmen traditionell bis in sehr
späte Zeiten erhalten habe. Die Phöniker könnten bereits an einem Punkte,
wo später Massalia gegründet wurde, Fuss gefasst haben, als im Innern
Frankreichs noch die Troglodyten von La Madeleine lebten. Das Renthier
(Caesars „bos cervi tigura“) sei erst in römischer Zeit aus Mitteleuropa ver-
schwunden und bei den Troglodyten Galliens ein gezähmtes Thier gewesen,
weshalb man die Reste desselben zumeist in und bei bewohnten Höhlen finde.
Auch Piette hält die renthierzeitlichen Bewohner Frankreichs nicht mehr
für reine Jäger; sie hätten die Höhlen nicht vorübergehend, sondern ständig
bewohnt, weshalb sich darin keine von Thieren benagten Knochen fänden, und
die Hauptnahrungsthiere des Menschen, Renthier und Pferd, seien gegen das
Ende der Quartärperiode bereits gezähmt gewesen.2) Die bekannte „femme au
renne“ von Laugerie-Basse ist nach seiner Meinung eine Frau, die neben ihrem
zahmen Renthier auf der Erde liegt. In den geometrischen Ornamenten auf
Pferdeköpfen von Mas d’Azil sieht er eine Art Zaumzeug.
Dagegen bemerkte G. de Mortillet (1. c., S. 162), dass die „femme au renne“
keine Gruppe im gewöhnlichen Sinne des Wortes bilde, sondern eine jener
Zeichnungen sei, in welchen die Künstler der Renthierzeit verschiedene Figuren
ohne gegenseitige Beziehungen darstellten. Die Proportionen der beiden Figuren
seien ganz verschiedene. Dieses Stück könne also nicht als Zeugniss für die
Domestication des Renthiers angeführt werden.3) Das Renthier sei sehr schwer
x) Archeol. celt. et gaul., ed. 2, Paris 1889, S. 72 ff.
2) Congres intern. X, 1889, S. 160, 168.
3) Es ist allerdings auffallend, dass der Künstler bei der Ausführung der Frauenfigur die
Beine des früher gezeichneten Renthiers aussparte und nicht überschnitt, wie es sonst bei derlei
Arbeiten geschah.
 
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