Im Stadtzentrum ist inmitten des Häusergewimmels eine auffallend große Fläche
freigelassen. Über der Stadt, in der linken oberen Bildecke, erscheint Maria als
Halbfigur über einer schmalen Wolkenbank schwebend. Mit einer fordernden Ge-
ste ihrer rechten Hand löst sie den wunderbaren Schneefall aus, während sie mit
ihrer linken die in lockerer Folge aus einem entlang des oberen Bildrandes or-
namenthaft ausgebreiteten Wolkenband rieselnden Schneeflocken auf das brach-
liegende Gelände lenkt, um so den gewünschten Bauplatz für Santa Maria
Maggiore zu markieren. Als ein eindeutiger Verweis auf die hochsommerliche Jah-
reszeit ist in der rechten oberen Ecke die mit einem Gesicht versehene Sonne dar-
gestellt, deren breite und aggressiven Strahlen das Übernatürliche des Gesche-
hens besonders deutlich werden lassen.
Der nur etwa halb so große New Yorker Druck ist eine vereinfachte, seitenver-
kehrte Wiederholung des Nürnberger Blattes oder eines gemeinsamen Vorbildes.
[Abb. 63] Beide Holzschnitte stehen ikonographisch auf dem gleichen Entwick-
lungsstand wie die zuletzt vorgestellten italienischen Miniaturen. Auch bei ihnen
ist die Darstellung unter weitgehendem Verzicht auf narrative Elemente aus-
schließlich auf das von Maria bewirkte Wunder konzentriert, so daß sie als den ita-
lienischen Beispielen vergleichbar verdichtete, formelhafte Chiffren für die
Schneewunderlegende angesprochen werden können. Da es aufgrund der fehlen-
den Bildbeispiele aber keine Anhaltspunkte für eine nördlich der Alpen ähnlich
stringent verlaufene Entwicklung der Bildtradition gibt, kann die auffällige „iko-
nographische Modernität" der süddeutschen Maria-Schnee-Holzschnitte wohl nur
durch die Kenntnis und die Nachahmung italienischer - möglicherweise venezia-
nischer - Vorlagen erklärt werden. Eine zumindest ungefähre Vorstellung davon,
wie eine solche Vorlage ausgesehen haben mag, vermittelt die Miniatur mit dem
Schneewunder in dem im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts von einem norditali-
enischen Meister illustrierten Brevier Kardinal Pietro Corsinis,85 wo das eigentli-
che Wunder links und rechts ebenfalls von städtischen Architekturmotiven ge-
rahmt wird. [Abb. 64]
Der Holzschnitt war zusammen mit einer großen Anzahl weiterer Drucke verschiede-
ner Provenienz - darunter zahlreiche in Venedig entstandene Blätter - auf einen Altar
der Nürnberger Katharinenkirche geklebt. Sie wurden später alle abgelöst und befinden
sich heute im Kupferstichkabinett des Germanischen Nationalmuseums; vgl. Lehrs
1908, S. 191-192; und Schreiber I, S. 5, Nr. 8a. Die venezianischen Blätter hat Kristel-
ler 1909 als zusammenhängende Folge publiziert.
85 Diese reich geschmückte Pergamenthandschrift befindet sich in der Schloßbibliothek zu
Aschaffenburg (Ms. Perg. 15), die von einem schmalen blauen Rahmen eingefaßte, auf
Goldgrund gemalte Schneewunderszene (ca. 63 mm x 155 cm) steht auf fol. 347': In die-
sem Falle helfen der Gottesmutter zwei Engel den Schneefall so zu dirigieren, daß sich
auf dem Gipfel des mons Superagius entsprechend des scharfgezogenen kreuzförmigen
Grundrisses die Fundamente der Kirche und - als ikonographische Besonderheit - des
Hauptaltares ausbilden. Zur Beschreibung des Kodex vgl. J. Hofmann/Thurn 1978,
S. 45-51.
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freigelassen. Über der Stadt, in der linken oberen Bildecke, erscheint Maria als
Halbfigur über einer schmalen Wolkenbank schwebend. Mit einer fordernden Ge-
ste ihrer rechten Hand löst sie den wunderbaren Schneefall aus, während sie mit
ihrer linken die in lockerer Folge aus einem entlang des oberen Bildrandes or-
namenthaft ausgebreiteten Wolkenband rieselnden Schneeflocken auf das brach-
liegende Gelände lenkt, um so den gewünschten Bauplatz für Santa Maria
Maggiore zu markieren. Als ein eindeutiger Verweis auf die hochsommerliche Jah-
reszeit ist in der rechten oberen Ecke die mit einem Gesicht versehene Sonne dar-
gestellt, deren breite und aggressiven Strahlen das Übernatürliche des Gesche-
hens besonders deutlich werden lassen.
Der nur etwa halb so große New Yorker Druck ist eine vereinfachte, seitenver-
kehrte Wiederholung des Nürnberger Blattes oder eines gemeinsamen Vorbildes.
[Abb. 63] Beide Holzschnitte stehen ikonographisch auf dem gleichen Entwick-
lungsstand wie die zuletzt vorgestellten italienischen Miniaturen. Auch bei ihnen
ist die Darstellung unter weitgehendem Verzicht auf narrative Elemente aus-
schließlich auf das von Maria bewirkte Wunder konzentriert, so daß sie als den ita-
lienischen Beispielen vergleichbar verdichtete, formelhafte Chiffren für die
Schneewunderlegende angesprochen werden können. Da es aufgrund der fehlen-
den Bildbeispiele aber keine Anhaltspunkte für eine nördlich der Alpen ähnlich
stringent verlaufene Entwicklung der Bildtradition gibt, kann die auffällige „iko-
nographische Modernität" der süddeutschen Maria-Schnee-Holzschnitte wohl nur
durch die Kenntnis und die Nachahmung italienischer - möglicherweise venezia-
nischer - Vorlagen erklärt werden. Eine zumindest ungefähre Vorstellung davon,
wie eine solche Vorlage ausgesehen haben mag, vermittelt die Miniatur mit dem
Schneewunder in dem im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts von einem norditali-
enischen Meister illustrierten Brevier Kardinal Pietro Corsinis,85 wo das eigentli-
che Wunder links und rechts ebenfalls von städtischen Architekturmotiven ge-
rahmt wird. [Abb. 64]
Der Holzschnitt war zusammen mit einer großen Anzahl weiterer Drucke verschiede-
ner Provenienz - darunter zahlreiche in Venedig entstandene Blätter - auf einen Altar
der Nürnberger Katharinenkirche geklebt. Sie wurden später alle abgelöst und befinden
sich heute im Kupferstichkabinett des Germanischen Nationalmuseums; vgl. Lehrs
1908, S. 191-192; und Schreiber I, S. 5, Nr. 8a. Die venezianischen Blätter hat Kristel-
ler 1909 als zusammenhängende Folge publiziert.
85 Diese reich geschmückte Pergamenthandschrift befindet sich in der Schloßbibliothek zu
Aschaffenburg (Ms. Perg. 15), die von einem schmalen blauen Rahmen eingefaßte, auf
Goldgrund gemalte Schneewunderszene (ca. 63 mm x 155 cm) steht auf fol. 347': In die-
sem Falle helfen der Gottesmutter zwei Engel den Schneefall so zu dirigieren, daß sich
auf dem Gipfel des mons Superagius entsprechend des scharfgezogenen kreuzförmigen
Grundrisses die Fundamente der Kirche und - als ikonographische Besonderheit - des
Hauptaltares ausbilden. Zur Beschreibung des Kodex vgl. J. Hofmann/Thurn 1978,
S. 45-51.
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