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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 13.1902

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Carstanjen, ...: Muß das Schöne gefallen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.6713#0307

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INNEN-DEKORATION.

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ihren himmelanstrebenden dämmerigen Domen, mit
ihren Stein-Bildwerken voll hölzernen Faltenwurfes.

Oder er denkt sich zurück in die gott- und
seelenlose Zeit der Renaissance mit ihrer Schönheit-
lust und ihrem prunkhaften Glänze, wo in vor-
nehmen Palästen und der stillen Klause des Forschers
der sieghafte Kampf der Geister gegen den Buch-
staben-Verstand und Barbarismus des Mittelalters
geführt wurde, wo die grössten Maler aller Zeiten
herrlichste Meister-Werke voll glühender Farben-
Harmonieen schufen. — Daneben müssen ihn selbst
die besten Werke eines Dürer und Holbein trotz
ihrer Kraft und Innigkeit abstossen.

Oder er ist ein Mensch, der ganz aktiv an der
Lösung der Aufgaben der Gegenwart teilnimmt,
er träumt nicht und spielt nicht Maskerade mit der
Kunst, er will auch bei ihr nur in Formen und
Farben und Rhythmen schwelgen, die zu seinem
ganzen übrigen Handeln und Denken in völliger
Harmonie stehen. Er liebt die schlank aufstrebenden
Linien des Eiffel-Lurmes, die zwischen dampfenden
Schornsteinen über dem Plussbett sich hinziehenden
Kurven der Eisen-Konstruktion der Schwebe-Bahn,
und er sehnt sich nach neuen Formen in allen
Künsten, die hierzu nicht in schreiendem Kontrast
stehen. — Bei diesem Geschmack versinken dann
alle Werke der Vergangenheit, und ständen sie
noch so leuchtend als vollendetste Verwirklichungen
des Schönen da; sie scheiden aus dem Bereiche des
Gefallenden für dieses Individuum aus.

Ich meine also: Wir können das Eine oder das
Andere lieben, wenn es auch längst vergangen ist
und zu uns nicht mehr passt, wie wir ein Märchen
lieben, obwohl wir wissen, dass es sich niemals
zugetragen hat. Aber wir können nicht alles zu-
gleich lieben. Es thut uns not, zu der Einsicht zu
gelangen, dass wir aus dem unendlich reichen Gold-
schatz des Schönen aller Zeiten in bescheidener
Weise auszuwählen haben, damit es uns nicht ver-
blendet und unseren Karakter nicht verdirbt.

Man kann einen retrospektiven oder einen fort-
schrittlich gebildeten Geschmack haben, aber man
muss doch Geschmack haben, sonst kommen wir
zu einem grauenhaften Mischmasch und zu einer
Verwaschenheit des Geschmackes als unseligste
Frucht unserer Erziehung, bemäntelt durch den
Wahn, in den Werken aller Zeiten das absolut
Schöne zu lieben. — Wer alles Ideal-Schöne schön
findet, der hat keinen Karakter in ästhetischen
Dingen; wem alles gefällt, der hat weniger Ge-
schmack, als der, dem nichts gefällt.

Wagt also nur getrost zu sagen: »Das ist schön,
aber es gefällt mir nicht«; oder weniger paradox:
»Das mag wohl ein Werk von autoritativ anerkannter
Schönheit sein, aber mir gefällt es nicht«, und ihr
werdet euch selbst und unserer Zeit einen Dienst damit
erweisen. Das entwirrt das Knäuel und entreisst uns
dem Dilemma, in das so viele heute geraten, wo sie
schwankend zwischen der Moderne und der geschicht-
lichen Kunst stehen. dr. carstanjen—Nürnberg.
 
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