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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 51.1940

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Michel, Wilhelm: Zweckform und Kunstform
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https://doi.org/10.11588/diglit.10972#0176

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166

INNEN-DEKO RATION

ZWECKFORM UND KUNSTFORM

Die Geschichte desMöbels hat zum eigentlichen In-
halt den Gegensatz und das Übereinstimmen von
Zweckform und Kunstform. Beide suchen und fliehen
sich wechselweise. Jede Nation, jede Zeit denkt an-
ders über das zwischen beiden bestehende oder zu for-
dernde Verhältnis. Bald sieht man das Element Kunst,
d. h. das eigentlich Menschliche, Gemüthafte, in der
Gestaltung vordringen, bald sieht man es von der
Zweckform in Zucht genommen und zurückgedrängt.
Das Wie dieses Verhältnisses ist immer vom Lebens-
gefühl der Gemeinschaft bestimmt.

Die Suche nach den Ursachen, aus denen sich Ge-
sinnung und Lebensgefühl der einen Zeit von dem der
andern Zeit unterscheidet, führt in Tiefen, die der ra-
tionalen Erkenntnis kaum völlig zugänglich sind. Der
Zeitgeist ist unter allen Göttern der dunkelste. Warum
wird die Welt des Rokoko plötzlich von auflösender,
hüpfender Melodik überströmt, daß es für uns Spät-
geborene fast aussieht, als habe sich die damalige
Menschheit vor Daseinsfreude kaum zu fassen ge-
wußt? Ging es ihr so gut, lebte sie so leicht und lieb-

lich? Die äußere Geschichte jener Zeit bietet kaum
einen Anhalt für eine Bejahung dieser Frage. In Räu-
men, deren Ornamentik von zärtlichen Schäfergedan-
ken diktiert war, mußte Friedrich der Große über
Kriegsplänen brüten, und in Zeiten, da Mozart das
Köstlichste seiner verliebten, märchenhaften Kunst
hervorbrachte, trieben Duodeztyrannen ihren schänd-
lichen Menschenexport, wanderten viele Tausende
deutscher Bauern in fremde Länder, weil eine besin-
nungslose rasende Ausbeutung ihnen nicht das Stück
Brot zur Stillung des täglichen Hungers ließ. Umge-
kehrt sehen wir in der Gemütsstimmung (und damit
auch in der Kunst und im Hausrat) solcher Zeiten, die
ein gemächliches Leben hatten, oft Ernst und Strenge,
Kälte und Verhaltenheit. Ist es nicht sonderbar, daß
die ausgesprochen hypochondrische Fin-du-siecle-
Stimmung aufkam in jenen Zeitläuften vom Ende des
19. Jahrhunderts, da ganz Europa in wirtschaftlichem
Aufstieg, in technischem und wissenschaftlichem
Fortschritt begriffen war? Was machte die Geister da-
mals so müde, daß nur eine pessimistische Philosophie
 
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