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Deutsches Archäologisches Institut [Hrsg.]; Archäologisches Institut des Deutschen Reiches [Hrsg.]
Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts: JdI — 6.1891

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Wolters, Paul: Tyro
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https://doi.org/10.11588/diglit.37650#0072
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Ö2

Wolters, Tyro.

Die Frau trägt auffallender Weise kein Untergewand sondern nur einen
Mantel, welcher Rücken, rechten Arm und Beine verhüllt, die Brust frei läfst; der
Kopf ist mit einer einfachen Haube bedeckt. Eine besondere Bedeutung vermag
ich in dieser Tracht nicht zu finden. Dagegen scheint mir für die Erklärung des
Ganzen das Zusammentreffen mehrerer Umstände entscheidend zu sein. Offenbar
ist das Interesse der Frau völlig von den zu ihren Füfsen dargestellten Säuglingen
in Anspruch genommen, auf welche sie nicht nur sinnend, wie Ivoepp meint, son-
dern traurig hinblickt. Für die Trauer scheint mir nicht nur die Neigung des
Kopfes und das Aufstützen des Kinnes auf die Hand bezeichnend, sondern auch
die geringe Erhebung der in das Gewand gehüllten rechten Hand. Dieselbe ruht
nicht unthätig im Schofse, sie hebt vielmehr den einen Mantelzipfel mit einer auch
auf Grabreliefs manchmal anklingenden Gebärde, um ihn zum Trocknen der Thränen
an die Augen zu führen. An sich ist sicherlich das Zwillingspärchen Nichts, was
so starken Kummer bei der jungen Mutter hervorrufen müfste. Dicht in ihre Win-
deln gewickelt, die Köpfchen mit der bekannten spitzen Kindermütze bedeckt, liegen
sie friedlich in ihrer muldenförmigen Wiege, welche völlig der Athen. Mittheilungen
X Taf. 4, i abgebildeten gleicht. Es ist offenbar die axacprj genannte Art der Wiege,
über welche Blümner in Hermann’s Antiquitäten IV S. 288, Daremberg und Saglio,
Dictionnaire des antiquites I, 2 S. 1588 zu vergleichen sind2. Es fällt aber auf, dafs
die Wiege in unserem Fall so ungemein flach erscheint; ihr Rand ragt kaum über
den Boden, auf dem sie stehen müfste, hervor, ja das Innere mufs tiefer liegen als
die umgebende Oberfläche. Die Wanne steht eben nicht auf festem Boden, sondern
sie schwimmt im Wasser. Und nur unter dieser Voraussetzung läfst sich auch die
eigentümliche Stellung verstehen, welche die Frau eingenommen hat. Wer würde
sich sonst zum Sitz einen so unbequem hohen Felsblock erwählen, wie sie? Wir
verstehen Alles, wenn wir sie uns am steilen Ufer des Flusses sitzend denken,
dessen Wellen sie ihre Kinder anvertraut. Und diese Aussetzung der Kinder im
Flufs, die unter anderen Umständen eine Sinnlosigkeit oder eine unverständliche
Grausamkeit wäre, wird begreiflich, wenn bei dem Gott des Flusses selbst ein Inter-
esse für die Kinder vorausgesetzt werden darf. Ich wüfste nicht, aus welchem
Mythos wir diese ganze Lage besser verstehen könnten, als aus dem der Tyro.
Nicht allerdings aus der Sagenform, die bei Homer (Od. 11, 235) vorliegt.
Denn wenn hier Poseidon der Tyro unter der Gestalt des von ihr geliebten Flufs-
gottes Enipeus naht und sich ihr darnach offenbart, so ist nicht nur durch den
ausdrücklichen Befehl Poseidons, die Kinder zu erziehen, sondern auch durch den
weiteren Gang der Erzählung jede Möglichkeit einer Aussetzung abgeschnitten.
Diese kommt in der späteren, auch von Sophokles bearbeiteten, Sage vor und bietet
die Grundlage der tragischen Verwickelung, die durch den dva^vujpiajxo? vermittelst
der avsly-q gelöst wird, in welcher einst die Kinder ausgesetzt worden waren; vgl.

2) In Neapel befinden sich sowohl in der Samm-
lung Santangelo als in der Terrakottensammlung

nicht wenige Exemplare eines Eros, der in einer
solchen Wanne schläft.
 
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