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Deutsches Archäologisches Institut [Hrsg.]; Archäologisches Institut des Deutschen Reiches [Hrsg.]
Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts: JdI — 35.1920

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Braun-Vogelstein, Julie: Die ionische Säule
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https://doi.org/10.11588/diglit.44574#0011
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DIE IONISCHE SÄULE.

Mit Tafel 1—3.

Einleitung.
»Als die Ionier der Diana einen Tempel errichten wollten, wählten sie die
Maße der weiblichen Gestalt; gegenüber der kraftvoll männlichen Erscheinung des
dorischen Tempels sollte hier ein schlankerer Bau die zarteren Formen weiblicher
Bildung verkörpern. Die schneckenförmigen Windungen des Kapitells glichen den
gekräuselten Locken des Haupthaares zur Rechten und Linken, die Blüten an der
Stirnseite dem Schmuck. Am Stamme deuteten Streifen das faltige Frauen-
gewand an.«
So erklärt Vitruv1) die Entstehung der ionischen Säule. Die symbolische
Bedeutung, die er mit dieser Erzählung dem Baugliede gibt, entbehrt sichtlich
nicht einer gewissen inneren Berechtigung. Noch am Ende des 19. Jh. zögert
Heinrich Wölfflin* 2) nicht, das Urteil, daß die ionische Säule den Eindruck einer
aufgerichteten Gestalt mit herabfallenden Haaren darbiete3), als treffend anzuer-
kennen. Diese Betrachtungsweise findet in der Einfühlungstheorie ihre wissen-
schaftliche Bestätigung^). Sie ist eine rein ästhetische, die von der Wirkung
auf den Beschauenden ausgeht und an der Erscheinung, ja an den Formen der
Ausführung und Ausschmückung haftet. Über die Struktur des Gebildes, über
seine Entstehung, seinen Beruf vermag sie nichts auszusagen.

>) De Architectura IV 1, 7.
2) Prolegomena zu einer Psychologie der Archi-
tektur, München 1886. Dissertation.
3) A. a. O. 44. Vgl. auch 39: »Bei alledem
kommt es natürlich nur auf das Prinzip an, es
liegt durchaus nicht die Absicht vor, mensch-
liche Gesichtszüge nachzuahmen«; und S.37/38:
»Die Architektur nähert sich hier der mensch-
lichen Organisation in sehr bedeutender Weise,
so daß sich physiognomische Analogien mit
großer Entschiedenheit einstellen.«

4) Schon Lotze äußert sich, freilich noch zurück-
haltend, in diesem Sinne, wenn er von »ver-
allgemeinerter Erinnerung an die Regsamkeit
unseres eigenen Körpers« spricht (Mikrokosmos,
2. Aufl. Leipzig 1869, II, 199)· Vgl· auch
die bei Wölfflin a. a. O. angeführte Literatur und
aus neuerer Zeit: Joh. Volkelt, System der
Ästhetik I (München 1905), 212 ff. und 111
(1914), 167 ft'., sowie Theodor Lipps, Ästhetik I
(Hamburg-Leipzig 1903), göft'., II (1906), iff.

Jahrbuch des archäologischen Instituts XXXV.

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