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Aber als wollte die Stadt Heidelberg beweisen, daß sie hier Rechte besitzt, hat
sich von Neuenheim her ein neues Wohnviertel mit Wohnblocks und Villen gegen
Handschuhsheim von der Ebene her vorgeschoben. Doch durch die Straßen bewegen
sich Bauernfuhrwerke. Sie haben häufig Stallmist und Jauche geladen. Es ist weiter-
hin alles ländlich und gemütlich. Und die Menschen, die hinzugekommen sind, haben
etwas von der rustikalen Art der Ureinwohner angenommen, — nicht umgekehrt.

Wer Handschuhsheim kennt, liebt Hendesse. Die Ritter von Handschuhsheim
hatten einen Handschuh im Wappen, und von ihnen hat das Wappen die Gemeinde.
Die Herren von Handschuhsheim haben sich ihre Burg nicht auf dem Berg erbaut,
sondern sie wie eine Igelstellung vor das Dorf in die Ebene gesetzt und sie mit
Wassergräben umgeben. Das Handschuhsheimer Schlößchen gegenüber hat einen
herrlichen Park mit schönen und seltenen Bäumen. Und wieder nur drei Schritte
weiter liegt das tausendjährige Kirchlein mit seinem dicken Wehrturm, seinem
spitzen Dach und den schönen Grabdenkmälern im Innern.

Hendesse hat seine Gassen, seine Winkel, seine stillen und versponnenen, alten
Toreinfahrten, Rebgirlanden über Gassen und Höfen. Es hat das Murmeln und Rau-
schen des Mühlbachs, es hat seine Atmosphäre. Den ganzen Zauber alter Dörfchen
und Städtchen finden wir hier. Es hat die grünen Höhen des „Hohen Nistler" und des
„Heiligenberg" im Rücken, und es bewacht den Zugang zu einem der schönsten Täler
des Odenwaldes, dem Siebenmühlental. Und es hat Wingerte und eine göttliche
Blütenpracht im Frühling, es hat den Kuckuck, der morgens zu den offenen Fenstern
hereinruft. — Man mußt nachts durch „Alt-Hendesse" gehen. Es braucht nicht einmal
der Mond zu scheinen. Aber eine Lampe an einer Ecke, ihr Licht fällt auf alte, ver-
hutzelte Häuser, ein verrückter Schatten legt sich guer über den Weg, in den Gärten
duften Rosen: es ist die Illustration zu einem alten deutschen Märchen, es ist ein
Stück verträumte Welt, in der alles Hetzen und Jagen aufhört. Solange noch Post-
kutschen die Bergstraße berühren (Goethe ist hier gereist), lief die Bergstraße mitten
durch den Ort. Heute hat sich die Verkehrsstraße in die Ebene abgesetzt. Wenn
Autos nach Hendesse reinkommen, sind sie keine wilden Tiere mehr, sie parken
abends vor den Kneipen und sind friedlich und zahm.

Gut, laß uns von den Kneipen reden! Es ist gleichgültig, wie sie heißen: um sie
alle weht eine seltsame und heimelige Luft. Man trinkt Einheimischen oder Schries-
heimer oder Wieslocher, man trinkt Weine von der anderen Rheinseit.e, Weine aus
der Pfalz. Und man ißt Rippchen dazu oder Bratwürste, Portionen für einen starken
Mann. Die Wagen, die draußen parken und plötzlich so still geworden sind, haben
Nummern, die gewöhnlich in Frankfurt, in Mannheim oder Ludwigshafen fahren.
Prost, sagt der einstige Generaldirektor, Prost! ruft der ehemalige Marineadmiral
und Prost! sagt der Landwirt Neureither oder der gemütliche Schuhmachermeister.
Es ist eine Atmosphäre in den Kneipen, wie man sie selten in der Welt findet. Da
hocken sie alle beisammen, Männer mit gelehrten Köpfen und Männer mit holz-
schnittartigen Gesichtern, die Geistesarbeiter und die Handarbeiter; sie verstehen
sich und wissen, daß es nur ein Hendesse auf der Landkarte gibt. Hier verstößt es
nicht gegen den guten Ton, die Jacken auszuziehen. Denn in diesen Kneipen ist
man zuhause, es ist alles ländlich, es ist eben jenes gewisse Etwas da, das Un-
beschreibbare. Und mit der Straßenbahn ist man in fünf Minuten am Bismarckplatz,
der internationalen Drehscheibe.

In Handschuhsheim gibt es Menschen mit Kindern und Enkeln, die noch niemals
auf dem Heidelberger Schloß waren. Das hat nichts damit zu tun, daß der letzte
Sproß derer von Handschuhsheim in der Silvesternacht 1600 in Heidelberg auf dem
Marktplatz ermordet wurde und damit das Geschlecht ausstarb, sondern die Men-
schen sind so, und man muß sie nehmen, wie sie sind. Um sie zu begreifen, muß
man mit ihnen Kirchweih feiern oder um die Linde tanzen.

Nein, wahrhaftig nicht, ich will nicht boshaft sein und versteckt. Aber ich liebe
Handschuhsheim, das meine Wahlheimat wurde. Allein der Name tut schon viel.
Man muß ihn einmal ganz langsam aussprechen und durch die Zähne ziehen: Hand-
schuhsheim! Es liegt alles darin, was die Heimat nur einschließen kann.

Bernd Böhle
 
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