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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 27.1911-1912

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Tietze, Hans: Der Blaue Reiter
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https://doi.org/10.11588/diglit.13090#0587

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Kunstuiuliathek
?u Berlin

DER BLAUE REITER

oder abends, gesund oder verrückt, mit den gäbe der Kunst war, den geheimnisvollen j
Augen blinzelnd oder auf dem Kopf stehend Mächten, deren Reich das menschliche Ge-
erscheinen können, sondern sie benützen sie fühlsleben ist, zum Ausdruck zu verhelfen. I
nur als geistige Elemente, als Vehikel von Diese Ahnenkonstruktion zum Zweck der
Empfindungen; aus Linien und Massen, aus eigenen Legitimierung ist nicht ganz unbe-
Farben und Farbentönen, die keine Erinne- denklich; denn sie schaltet nicht nur ziemlich
rungen bestimmter Gegenstände und keine in- willkürlich mit Absicht und Wirkung vergan- ,
tellektuellen Assoziationen erwecken wollen,soll gener Kunst, sondern sie verkennt auch, daß J
eine neue künstlerische Sprache gebildet wer- in der Volkskunst das Ueberwuchern des Aus-
den. Daß darüber die ganze ererbte künst- drucks über die Gestaltung ein Nichtkönnen I
lerische Kultur in Trümmer gehen muß, mag ist; ein verzerrter Reflex der „großen Kunst" j
verständlich erscheinen; denn jede Form, die und nicht eine bewußte Abstraktion wie bei I
erst als der Ausdruck einer Idee entstanden den heutigen Expressionisten. Noch weniger
war, wird schnell leere Schale, ein toter Götze, können aber die primitiven oder gotischen
der Lebendiges als Opfer fordert. Darum hat Werke als Zeugen für eine Theorie angeführt

i jede neue Kunst die alten Formen zerschlagen, werden, die die Gefühlsreaktion zum Allein- i

i wenn auch keine so radikal dabei J

i verfahren zu sein scheint wie die

i Revolutionäre von heute. Oder

1 höchstens jene Sekte im Atelier
Davids, die sich statt Wilde Primi-
tive nannten und denen der klassi-

l zistische Stilismus ihres Meisters

! als krasser Naturalismus vorkam ;
ihnen schien alles Entartung, was
nach dem geometrischen Stil des

i Dipylon gekommen ist und alle

i klassische Kunst galt ihnen als

I pure Konvention.

Aber diese Konvention erwies
sich stärker als sie; und in ähn-

I licher Weise wird das Kunsterbe

I der Vergangenheit auch den Wil-

i den von heute das größte Hinder-

i nis sein; nicht weil wir es ver-

I ehren und bewunderngelernthaben,

1 sondern weil es unser ganzes Sehen

1 und Kunstempfinden gebildet hat.
Deshalb sehen sich auch die An-
greifer nach Verbündeten in der

! Vergangenheit um, suchen an Bei-
spielen aus den verschiedensten
Kulturen und Zeiten nachzuweisen,
daß die Bewegung gar nichts so
unerhört Neues anstrebt, daß sie
an Fäden weiterspinnt, die in die
dunkelsten Tiefen der Menschheit
zurückführen; exotische Werke
echter Wilder, die tiefe Inbrunst

I gotischer Skulpturen, die mystische

| Kunst Grecos, namentlich aber Er-

l Zeugnisse aller Art von Volkskunst

I müssen dafür zeugen, daß nicht

I immer nach der Illusion durch

[ Formen und Farbe gestrebt wurde, cesare maggi bildnis der frau des Künstlers J

daß es davor und daneben Auf- X. Internationale Kunstausstellung Venedig 1912

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