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Österreich / Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale [Hrsg.]
Kunstgeschichtliches Jahrbuch der K[aiserlich-]K[öniglichen] Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale - Beiblatt für Denkmalpflege — 1909

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Heft 3-4
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Schaeffer, Emil: Ein unbekanntes Bildnis von Boltraffio
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https://doi.org/10.11588/diglit.26207#0109
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169

E. Schaeffer Ein unbekanntes Bildnis von Boltraffio

I 70

Ein unbekanntes Bildnis von Boltraffio

Das Schloß des Grafen Potocki zu Zator birgt in
seinem Oberstocke die normale kleine Bildergalerie
einer alten Familie. Da sind französische Pastell-
porträts zweiten, holländischeGenreszenendrittenund
vierten Ranges, sentimentale Veduten, wie sie dieRom-
fahrer der Goethezeit ausltalienheimbrachten, und, als
Hauptstück, die sehr dekorative, vielleicht von einem
venezianischen Künstler des späten Cinquecento her-
rührende Kopie nach einem der römischen Impera-
toren, die Tizian für Federigo Gonzaga, den Herzog
von Mantua, gemalt hatte1). Und doch wird eine
Reise nach Zator, dem kleinen galizischen Nest, weder
den Forscher noch den Amateur gereuen; denn in
einem Salon des Erdgeschosses kann man ein
Frauenbildnis bewundern, von dessen Schönheit die
(noch dazu mißglückte) Reproduktion kaum eine
Ahnung zu wecken vermag2). „Lionardo“, ein neuer
Lionardo! — jubelt der Betrachter; denn eine
Etappe auf dem Entwicklungswege Lionardos zur
Mona Lisa scheint dieses Porträt, das — ich muß
noclimals auf die Unzulänglichkeit der Abbildung
hinweisen — die Sinne durch den nämlichen Reiz
des Unergründlichen oder, wenn man mit Worten
spielen will, durch den nämlichen unergründlichen
Reiz gefangennimmt, wie das Meisterwerk im Louvre.
An dieses gemahnt hier besonders die Behandlung
der perlmutterartig blinkenden Fleischpartien, die,
abgesehen von ein paar Stellen an der Brust, der
Stirne und im Antlitz, wo die Farbe zu bröckeln be-
ginnt, nichts von jener leonardosken morbidezza
verloren haben, die allerorten das Knochengerüst
als ein Zusammenhaltendes, Festes durchscheinen
oder besser, empfinden läßt. Auch der etwas müh-
same Fleiß, der auf die Wiedergabe des Mieder-
besatzes, der dicken, runden, schwarzen Perlen, der
weißen Fältelung und endlich der kleinen Gold-

*) Auf Leinwand, H. i'20 m, Br. o-95 m. Daß die ganze
Serie, als sie sich bereits auf dem Wege nach England in
Venedig befand, dort fiir den früheren Besitzer, den Herzog
Vincenzo II. von Mantua, kopiert wurde, scheint aus einem
Briefe hervorzugehen, den Daniel Nys am 2. Oktober 1627
aus Venedig an den Conte Alessandro Stripepi, den Minister
Vincenzos II., richtete. S. „Raccolta Veneta“. Venezia 1866
p. II2. „II Sigr- Zavarelli mi scrive, che S. A. J. vuol
mandarmi un pittore a posta per copiare li Quadri della
sua Galleria, ma non fa bisogno che mandi, che qui non
ne manca, et ne habiamo di buoni et li farö copiare et li
manderö poi con le sue soaze.“

2) Auf Holz, H. 0-54 m, Br. 0'45 m. Unter Glas im
neuen Rahmen.

kugeln an der goldenen Schnur gewandt wurde,
brauchte bei dem Schüler des Verrocchio nicht zu
befremden, und doch — wir haben gelernt, vor den
Werken der Größten auf das Kleinste zu achten,
und was nicht mit lauter Stimme ihre Autorschaft
verkündet, zeugt gegen sie. So spricht gegen Lio-
nardo als Scliöpfer des Porträts das in der Repro-
duktion leider nicht erkennbare Schmuckstück der
Korsage, eine sonnenartigeScheibe, die von schwarzen
Eisenornamenten wie von Skorpionen umklammert
wird; darüber dräut ein goldbraunes Löwenhaupt,
aus dessen Maul zwei Korallen niederhängen. Aber
zeichnete Leonardo jemals Löwenköpfe, vor denen
man an Pudel denken muß? Weiter. Über der Brust
dieser Dame liegt, von zwei flachen Goldplättchen
in ihrem Flusse durchbrochen, eine grünlich-braune
Kette, die an Pflanzenformen erinnert, ohne daß sich
deren Art bestimmen ließe3). Aber Lionardos Blumen
undGräser vermögen vor dem Auge des strengstenBo-
tanikers zu bestehen. An diesem Pflanzengeschmeide
hängt, die Mitte der Brust akzentuierend, eine dunkel-
rote Quaste und zwei andere, auf der Reproduktion
wiederum nicht erkennbare Quasten von der näm-
lichenFarbe schmiegen sich, aus dem ebenfalls dunkel-
roten Haarnetze herabgleitend, links und rechts in etwas
losen Strähnen an das Weiß der Schulter. Aber die
Quasten, von denen an den Stellen, wo sie hingesetzt
sind, sehr starke malerische Reize ausgehen, scheinen
nicht der freiwaltenden Laune einer genialen Phan-
tasie entsprungen, die auch beim Spielen, im Aus-
ruhen gleichsam, neue Formen schafft, sondern klein-
lich und peinlich einer richtigen Posamentiererquaste
nachgezeichnet. Lionardo verfuhr anders. . . . Wer
aber hat dieses Bildnis, das so lionardesk und un-
lionardesk zugleich anmutet, geschaffen? Seine Be-
seeltheit, das Gedämpfte und Verhalten-Melancho-
lische im Ausdrucke jener Frau weisen auf den
nicht nur seiner sozialen Stellung nach „Vrornehm-
sten“ unter Leonardos Mailänder Gefolgschaft, auf
Giovanni Antonio Boltraffio4).

3) Herr Fei.ix Rosen, Professor der Botanik an der
Universität Breslau, hatte die Güte, mir diese Aufklärung
zu geben, wofür ihm auch an dieser Stelle bestens ge-
dankt sei.

4) Guido Carrocci. „La R. Galleria di Brera-
Giovanni Antonio Boltraffio“ in „Le Gallerie nazionali
Italiane“ Roma 1899, p. 328. „Talora egli riesce anche a
rapire al maestro dei sorrisi, la tenerezza del sentimento
e della bellezza muliebre, la magia del chiaroscuro, la
finitezza“.
 
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