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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 6
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Waldmann, Emil: Janusköpfe der Genialität
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0218

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des Schöpferischen angelangt war, dann häufte die
Natur nicht alle ihre Gaben auf ein einziges Genie-
haupt, das nun alles ausdrückt, was dieses Volk
dank seiner vorhergegangenen Entwicklung zu
sagen hatte, sondern sie teilte ihre Kräfte. Ehe sie
ausholt, in dem gleichen Augenblicke, wo sie aus-
holt zum letzten Schlage und das Genie geboren
werden lässt, das aus dieser Entwicklung eine neue
geistige Welt schafft, steigert sie das Dagewesene
zu einer letzten, unerhörten Blüte. Sie übertrumpft
sich selber und beruhigt ihr Gewissen, und erst
wenn dies Gewissen beruhigt ist, giebt sie den Weg
frei zu neuen Thaten. Die griechische Skulptur hatte
seit dem Anfang des fünften Jahrhunderts mit
eiserner Folgerichtigkeit immer an ein und derselben
Aufgabe gearbeitet: der Statue, dem nackten
Menschen. Langsam hatte sie den Menschen befreit,
zögernd und sehr vorsichtig aus dem Banne der
Frontalität erlöst, ihm die Möglichkeit gegeben,
von selber zu stehen und zu gehen, sich zu be-
wegen aus eigener Kraft. In Myron, um die Mitte
des Jahrhunderts, war es erreicht, die formalen Auf-
gaben schienen alle gelöst. Phidias konnte kommen
und mit dieser formal beherrschten Kunst seine
Idealbilder hinstellen von Göttlichem, geistige Ideal-
bilder, die dieser Zeit so nötig waren. Aber ehe er
kam, fast gleichzeitig mit ihm, erschien Polyklet.
Und wer geglaubt hatte, den nun einmal gefundenen
formalen Lösungen sei nichts mehr hinzuzufügen, der
ward stumm vor Polyklet. Er vertiefte das alles zu
einer noch höheren Vollendung. Er gab dem
Formalismus ein Gesetz und erfand den Rhythmus,
die Rhythmisierung der Statue in fast musikalischem
Sinne. In seinem „Speerträger" stellt er den Kanon
hin, ein Muster dafür, wie der Mensch gebaut sein
muss, er legte alles hinein, was die Zeit über die
Form wusste und konnte. Und in seinem „Dia-
dumenos" steigerte er das zu einer ungeahnten
rhythmischen Harmonie. Neben Phidias, der in
seinen grossen Kultbildern etwas Geistiges wollte,
der in den Giebelfiguren des Parthenon Gedank-
liches und fast schon Seelisches hineinbezog in den
Kreis der Plastik und damit dem vierten Jahrhundert
das Programm gab, steht Polyklet als Bewahrer der
Tradition, als Inbegriff des Höchsten, was die
Kunst als reine Form, als reine Musik zu sagen
hatte. Vielleicht empfinden wir Phidias als den
Grösseren, weil er der Zukunftsreichere war und
Menschen erschütterte, denen die rein formelle
Vollendung einer Statue innerlich schon nichts mehr
bedeutete; weil er die Weltanschauung der folgenden

i

Generationen mit bestimmen half. Aber Polyklet
hatte, zum letzten Male, gezeigt, was die naive Schön-
heit vermag, wessen die Kunst der reinen Form
fähig ist. Die beiden gehören zusammen, weil sie
sich ergänzen. Beide Möglichkeiten in ein und
dasselbe Wesen zu legen, scheint der Natur un-
möglich, sie würden sich gegenseitig zerstören.

Nach diesen zwei Polen orientieren sich, mu-
tatis mutandis, die Kraftstreime der Kunstent-
wicklungen auf allen ihren Höhepunkten, so weit
sie sich überhaupt in Individuen inkarnieren und
nicht, wie im Mittelalter, noch in der Gotik, sich
anonym äussern. Als Michelangelo Welten zer-
trümmerte, als er den Barock heraufführte und als
seine Seele, um einen Ausweg zu finden aus der
Überfülle des Schöpferischen, eine Zuflucht fand in
Formen, die fast wieder gotisch anmuten, voll-
endete Raffael die Welt der reinen Form. Nicht als
Eklektiker, wie man gesagt hat, nicht akademisch,
wie man gemeint hat, (weil er, wie alles „nur"
Vollendete, gleich in Akademie verwandelt wurde),
sondern als ein Mensch, der von Weltanschauungs-
sorgen nicht bedrängt ward, sondern der die letzte
Formel suchte für die menschliche Schönheit. Der
alles zusammenfasste, was man damals können
konnte, und der dieses Wissen veredelte in feinstem
Ausdruck. Während Michelangelo an seiner Decke
Gestalten von Urweltsgrösse hinstellte, deren Riesen-
maass der Leiber weit über Menschliches hinaus-
geht, „rettete Rafael die Vorstellung des Humanen",
des Humanismus, an die ein halbes Jahrhundert ge-
glaubt hatte, und während Michelangelo die
Malerei behandelte, als ob sie Plastik wäre, führte
er die Tradition der guten Malerei, der Wand-
malerei, ihrem letzten Wort entgegen, über Man-
tegna, über Piero delJa Francesca, natürlich auch
über Botticelli und Ghirlandajo, aber auch über
Lionardos „Abendmahl" hinaus zu grösserem Reich-
tum und zu schönerer Klarheit. Und in seiner
„Donna Velata",in seinem „Kardinal",in seinem „Bal-
dassare Castiglione" gab er den höchsten Maasstab
dafür, was gute Malerei eigentlich ist. Michelangelo
ist bedeutender, kein Zweifel; aber Raffael ist not-
wendig neben ihm als höchster Ausdruck der
Tradition, weil ohne ihn die Renaissancemalerei nur
ein Torso wäre, sozusagen nur Rohstoff für eine
neue Weltanschauung.

Als Raffael gestorben war, schrieb man auf
seinen Leichenstein, die Natur habe ihn wieder
hinweggenommen von der Erde, weil sie eifersüchtig
auf ihn geworden sei. Das war sie nicht. Sondern

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