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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 8
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Friedländer, Max J.: Kennerschaft, Kunsthistorie und Ästhetik
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hat es Kenner gegeben. Der Typus des berufs-
mässigen Kenners, des Experten ist jungen Datums.
Giovanni Morelli, der vor etwa 40 Jahren mit
einigen Büchern über italienische Kunst hervortrat,
wurde von vielen Leuten als der Begründer einer
neuen Wissenschaft gefeiert. Er war ein begabter
Kunstfreund, der mit scharfen Beobachtungen die
Kenntnis der italienischen Malerei erheblich ge-
fördert hat. Von der Berufskrankheit der Charla-
tanerie war er nicht frei. Er steigerte den Effekt
und die Anziehungskraft seiner Urteile, indem er
eine Methode verkündete, eine streng wissenschaft-
liche, naturwissenschaftliche. Das klang verlockend
und erlösend. Die Methode bestand darin, dass
Morelli messbare Formen, die man auswendig lernen
kann, als Merkmale dieses oder jenes Meisters her-
aushob. Weder Morelli noch einerseinerNachfolger
ist in einer Bildergalerie umhergegangen und hat
nach der typischen Handform Fra Filippos gesucht,
um auf diesem Wege die Bilder dieses Meisters
aufzufinden. Nachträglich, wenn er ein Werk Fra
Filippos irgendwie gefunden hatte, zeigte er
triumphierend auf die Hände oder die Ohren.
Nicht zur Ermittlung, nicht einmal zur Kontrolle,
nicht um das Richtige zu finden, sondern nur um
Recht zu behalten, hat er seine Methode benutzt.
Mit solcher gedanklichen Unsauberheit ist dasNiveau
nicht gehoben worden. Morelli selbst sprang in
ernsten Fällen von seiner Methode ab und suchte
mit gefühlsmässigen Appellationen zu überreden,
etwa mit solchen Wendungen: es ist lächerlich, einem
Meister von Leonardos Rang so etwas zuzutrauen.
Durch Morellis Auftreten wurde eine Fehlerquelle
zwar verdeckt, aber nicht ausgetrocknet.

Die akademischen Kunstgelehrten, die ehemals
viel Wert darauflegten, zu denHistorikern gerechnet
zu werden, die neuerdings eine Art empirischer
Ästhetik treiben, waren stets geneigt, von den
Kennern abzurücken, sei es dass sie Unwissen-
schaftlichkeit scheuten, sei es dass sie das Bilder-
bestimmen als eine kleinliche und niedrige Beschäf-
tigung verachteten. In Deutschland, wo sich die
Kunstforschung sowohl an den Hochschulen wie
an den Museen kräftig entwickelte, schieden sich
zwei Lager, die einander fremd und zuweilen feind-
lich gegenüberstanden: die Theoretiker, die das
Kunstwerk vom höheren Standpunkt, im historischen
oder ästhetischen Zusammenhang betrachteten, die
Praktiker, die im Museumsdienste die Autorbe-
stimmung als das Ziel ihrer Arbeit ansahen. Die
Praktiker nannten sich mit Stolz Kenner, die

Theoretiker machten auf diesen Titel keinen An-
spruch.

Die Spaltung ist bedenklich, nicht durchführbar
und ein Zeichen mangelhafter, beschränkter Übung
hier und dort.

Allerdings giebt es Arbeitsgebiete der Kunst-
forschung, wo der Historiker und Philologe sich
unter völligem Verzicht auf Kennerschaft bethätigen
kann, zumBeispiel das Durchforschen von Urkunden,
die Herausgabe von Schriftquellen und dergleichen.
Aber irgendwie wird der Forscher doch zu seinem
eigentlichen Gegenstand, dem Kunstwerk, geführt.
Nun haben die Kunsthistoriker und die Ästhetiker
ihr Verhältnis zu den Kennern gern so aufgefasst,
dass sie auf den Schultern der Kenner stehend in
eine höhere Sphäre ragten. Übrigens: wenn dem
so ist, haben sie alle Veranlassung mit Achtung auf
eine Vorarbeit zu blicken, von der sie abhängig
sind. Sie erwarten doch, reines und vollständiges
Material aus reinen Händen zur Ordnung zu emp-
fangen.

In der Praxis ist die Arbeitsteilung nie eingehalten
worden. Der Historiker, der etwa eine umfassende
Biographie oder die Darstellung einer Periode
unternimmt, muss sich hier und dort in bezug auf
die Autorschaft entscheiden, er muss das Material
an Monumenten selbst sieben und vervollständigen.
Ob ihm die Kennerschaft nur Mittel zum Zweck
ist, während sie dem Praktiker der Zweck zu sein
scheint, von Fall zu Fall wird er vor dem einzelnen
Kunstwerke Farbe bekennen. Und weder H. Grimm
noch Wölfflin haben darauf verzichtet, sich vielmehr,
wann es darauf ankam, die Gabe der Kennerschaft
zugetraut.

Die Kennerschaft kann als die Wurzel, aber
ebensowohl als die Blüte der Kunstforschung be-
trachtet wetden.

Das Formgedächtnis beruht keineswegs auf
mechanischem Auswendiglernen. Die Erregung
erweicht gleichsam die Wachstafel, so dass sie die
Eindrücke empfängt und festhält. Die stärksten
Erlebnisse prägen sich aus festesten ein. Der En-
thusiast wird dem Wesentlichen eine bessere Er-
innerung bewahren als der kaltherzige Beobachter.

Das Betrachten derKunstwerke ist ein verwickel-
ter Vorgang, keineswegs eine rein optische Auf
nähme, vielmehr eine aktive geistige Arbeit, an der
alles, was wir wissen, beteiligt ist. Dem ausgezeich-
neten und in stetiger Übung gestärkten Gedächtnis
für Formen und Farben kommen Kenntnisse jeder
Art zu Hilfe. Wer am meisten weiss, sieht am meisten.

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