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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 8
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Weisbach, Werner: Matthias Grünewald, [2]: Formales und Psychologisches
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0314

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der Gliederapparat erhalt in den Gelenken eine
grössere Biegsamkeit, so dass sich die durch den
Vorgang geforderten Funktionen hemmungsloser
als früher vollziehen; und man ergeht sich in
dieser neuen Freiheit, um den Figuren eine er-
höhte Aktivität zu verleihen. Bei Grünewald hat
diese Fähigkeit aber nicht eine durch anatomische
und Proportionsstudien gefestigte Kenntnis des
menschlichen Körpers zur Grundlage, wie bei den
italienischen Quattrocentisten und bei Dürer. Die
Form mit Ausdruck zu sättigen, so dass die Ein-
fühlungsmöglichkeit in ihren inneren Gehalt einen
möglichst geringen Widerstand findet, steht ihm
höher als zeichnerische Korrektheit. Während
Dürer sich sein ganzes Leben im Aufspüren kano-
nischer Regeln und Normen abmühte, um eine
sichere Grundlage für die Wiedergabe der Körper
und ihrer Verhältnisse zu finden, lässt sich Grüne-
wald auf dieserationalistische Seite des künstlerischen
Bemühens seiner Tage nicht ein und trachtet, seiner
Inspiration gemäss die charakteristischen und sug-
gestiven Elemente des gewollten Ausdrucks zu
treffen, unbekümmert, ob alles so stimmt, wie es
sich eigentlich bei einer1 Relation auf die Wirklich-
keit verhalten müsste. Wo er den nackten Leib
verwendet, lassen sich Verzeichnungen nachweisen,
die keinem akademischen Zeichenschüler unter-
laufen würden. Wer nähme aber auf dem Isenheimer
Auferstehungsbild, gepackt von dem hinreissenden
Gesamteindruck der visionären Erscheinung, Anstoss
an den staksigen Beinen der dem Grabe entfahren-
den Christusfigur! Das Pathos bringt Grünewald
mit einem Mass von Bewegung zur Anschauung,
das stellenweise das Outrierte streift, wie bei der
knieenden Magdalena der Isenheimer „Kreuzigung",
die sich hemmungslos ihrem wilden Schmerz über-
lässt (Abb. 14). Die Arme mit den gefalteten
Händen emporgereckt, den Kopf zurückgeworfen,
blickt sie mit entstellten und verzerrten Zügen zu
Christus auf, und wie ein loderndes Feuer jagen die
langen Haare und die aufgewühlten Falten des Ge-
wandes um ihren Leib — ein leidenschaftlicher
Ausbruch, der etwas Tobendes hat.

Ist eine gesteigerte Bewegtheit einerseits als
Ausdruckskoeffizient einer von einem neuen Schau-
ungsvermögen getragenen seelischen Bewegtheit
anzusehen, so wohnt andererseits der Bewegung an
sich aber auch eine rein formale und dekorative
Funktion inne. Der spätgotische Stilwille opfert
den einseitigen Hochdrang der klassischen Gotik
einer mehr auseinanderstrebenden und in sich

fluktuierenden Bewegung. Zugleich bereichert er
das Ensemble durch Vervielfältigung der Teile. Die
Flächen werden in ein System mannigfach ineinan-
dergreifender und durcheinanderspielender Glieder
zerlegt. Der Eindruck erhält dadurch oft etwas
Unübersichtliches, Verwickeltes, Zerrissenes und
Krauses. Die Tendenz zum Malerischen überwiegt
das Gefühl für das Kubisch-Plastische. Das alles
sind Anzeichen, die wir als barock im weiteren
Sinn zu bezeichnen pflegen.

Grünewald ist ein typischer Vertreter dieses
gotischen Barock. Die Lust am Dekorativen teilt
er mit seiner ganzen Epoche. Der tabernakelartige
Bau, in dem das Engelkonzert auf der Isenheimer
Geburtsszene vor sich geht, darf als ein Muster-
beispiel spätgotischen Dekorationsgefühls gelten
(Abb. 1 5). Die ehedem so streng struktive Fügung
des gotischen Formgerüstes ist einer Kombination
dekorativer Motive gewichen, die jeden festen Zu-
sammenschluss lösen, die wesentlichsten Verbin-
dungsstellen in der Konstruktion verdecken und
den ganzen Aufbau mit einem phantastischen
Reichtum schmückenden Details überwuchern. Eine
bezeichnende Eigentümlichkeit für die natura-
listische Tendenz der Dekorationsweise ist, dass
vegetabilische Formen nicht in rein ornamentaler
Behandlung, sondern als wirklich-vegetativ gedacht
vorkommen und die tektonischen Bildungen um-
ranken. Auch die menschlichen Figuren, die als
Glieder in den dekorativen Apparat aufgenommen
sind, verleugnen ihre Rolle als ornamentale Faktoren
und gebärden sich, als wenn sie für sich bestehende,
in voller Leibhaftigkeit auftretende Wesen wären.
Das sind Formungen, die sich allenthalben bei
Grünewald finden. Die Bereiche des real Gesehenen,
des visionär Erschauten und des ornamental Emp-
fundenen fliessen ineinander über.

Bewegtheit und Reichtum, wie sie sich in dem
dekorativen System bekunden, begegnen uns auch
bei der Gewandbehandlung und anderem Beiwerk
des Figürlichen. Die Gewandbehandlung weist Züge
auf, die sich wesentlich von der Art des fünfzehnten
Jahrhunderts unterscheiden. An Stelle des von
einer bestimmten Schematik ausgehenden, mehr
abstrakten, eckigen und knitterigen Faltenwurfs ist
eine mehr auf Naturbeobachtung fussende Durch-
führung getreten, die den StofFmassen schwung-
vollere Biegungen und breitere Ausladungen verleiht.
Die Drapierung hat stellenweise etwas Rauschendes,
wie es keinem andern altdeutschen Maler zu Gebote
stand; sie hat ihr Eigenleben, nimmt an dem Pathos

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