die Missachtung der Grenzen — auch jener Gren-
zen, die Mutter Natur ihrem Kinde leise ziehen
wollte, — deutsch sei. — Als ich die Ausstellung
verliess, fiel mir das Epigramm ein:
Warum will sich Geschmack und Genie so sel-
ten vereinen?
Jener fürchtet dieKraft; dieses verachtet den Zaum.
Schiller hat recht; Corinth beweist es uns
wieder einmal, denn er ist das Genie, das den Zaum
des Geschmackes verachtet. Nur wolle man es
nicht vergessen, dass jenes Epigramm der Münze
gleicht, die ausserhalb unserer Grenzen ihren Kurs
verliert. Für unsere Antipoden im Gesamtgebiet
europäischer Kultur wird Schillers Weisheit unver-
ständlich, denn bei ihnen hat das Genie von Phidias
bis zu Rodin und von Zeuxis bis zu Renoir niemals
im Streit mit dem Geschmacke gelebt; weit davon
entfernt, seine Regel zu missachten, hat es sie viel-
mehr geehrt und bekräftigt. Und weil die Regel
lernbar ist, so sind unsere Deutschen immer wieder
in die Länder des Geschmackes gezogen, nach
Italien und Frankreich. Ja, es konnte sogar der
Starke vom Schwachen, Corinth von Robert-Fleury
immer noch ein wenig lernen. Die Kraft aber ist
nicht lernbar. Alle Franzosen würden vergebens
bei Corinth in die Schule gehen.
Es dünkt uns kein Zufall, dass dieser Meister
des furor teutonicus ein Sohn des Volkes aus un-
sern nordöstlichen Grenzbezirken ist. Denn über-
all in unseren Marken gewinnen deutsche Art und
deutsche Sprache tiefere Farben und eine eigene
Würze. Es ist, als ob der Deutsche sich hier in der
Nähe des Fremden erst recht seiner bewusst würde,
da er gezwungen ist, sich zu behaupten.
Corinth hat sich bisweilen als Krieger in eiserner
Rüstung gemalt und eines dieser Bilder zeigt ihn uns
zurückgeworfenen Hauptes als Bannerträger mit
einer Miene, als wollte er sagen: „Was schiert mich
eure Gunst oder Abgunst! Ich weiss, wer ich bin und
halte mein Panier fest." — So wird er vielleicht
einst der Nachwelt erscheinen, wenn alles Papier, das
jetzt über ihn bekritzelt wird, längt verkrümelt ist
LOVIS CORINTH, BORDIGHERA
MIT" ERLAUBNIS DER HOFKUNSTHANDLUNG FRITZ GURL1TT, BEELIN
H5
zen, die Mutter Natur ihrem Kinde leise ziehen
wollte, — deutsch sei. — Als ich die Ausstellung
verliess, fiel mir das Epigramm ein:
Warum will sich Geschmack und Genie so sel-
ten vereinen?
Jener fürchtet dieKraft; dieses verachtet den Zaum.
Schiller hat recht; Corinth beweist es uns
wieder einmal, denn er ist das Genie, das den Zaum
des Geschmackes verachtet. Nur wolle man es
nicht vergessen, dass jenes Epigramm der Münze
gleicht, die ausserhalb unserer Grenzen ihren Kurs
verliert. Für unsere Antipoden im Gesamtgebiet
europäischer Kultur wird Schillers Weisheit unver-
ständlich, denn bei ihnen hat das Genie von Phidias
bis zu Rodin und von Zeuxis bis zu Renoir niemals
im Streit mit dem Geschmacke gelebt; weit davon
entfernt, seine Regel zu missachten, hat es sie viel-
mehr geehrt und bekräftigt. Und weil die Regel
lernbar ist, so sind unsere Deutschen immer wieder
in die Länder des Geschmackes gezogen, nach
Italien und Frankreich. Ja, es konnte sogar der
Starke vom Schwachen, Corinth von Robert-Fleury
immer noch ein wenig lernen. Die Kraft aber ist
nicht lernbar. Alle Franzosen würden vergebens
bei Corinth in die Schule gehen.
Es dünkt uns kein Zufall, dass dieser Meister
des furor teutonicus ein Sohn des Volkes aus un-
sern nordöstlichen Grenzbezirken ist. Denn über-
all in unseren Marken gewinnen deutsche Art und
deutsche Sprache tiefere Farben und eine eigene
Würze. Es ist, als ob der Deutsche sich hier in der
Nähe des Fremden erst recht seiner bewusst würde,
da er gezwungen ist, sich zu behaupten.
Corinth hat sich bisweilen als Krieger in eiserner
Rüstung gemalt und eines dieser Bilder zeigt ihn uns
zurückgeworfenen Hauptes als Bannerträger mit
einer Miene, als wollte er sagen: „Was schiert mich
eure Gunst oder Abgunst! Ich weiss, wer ich bin und
halte mein Panier fest." — So wird er vielleicht
einst der Nachwelt erscheinen, wenn alles Papier, das
jetzt über ihn bekritzelt wird, längt verkrümelt ist
LOVIS CORINTH, BORDIGHERA
MIT" ERLAUBNIS DER HOFKUNSTHANDLUNG FRITZ GURL1TT, BEELIN
H5