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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 11
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Lessing, Gotthold Ephraim: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0439

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Man ist nicht Herr seiner Empfindungen! aber man
ist Herr, was man empfindet, zu sagen. Wenn einem
Mann von Geschmack in einem Gedichte oder Gemaide
etwas nicht gefällt: muss er erst hingehen und selbst
Dichter oder Maler werden, ehe er es heraussagen darf:
das gefällt mir nicht? Ich finde meine Suppe versalzen:
darf ich sie nicht eher versalzen nennen, als bis ich
selbst kochen kann?

Was sind die Gründe des Kunstrichters? Schlüsse,
die er aus seinen Empfindungen, unter sich selbst und
mit fremden Empfindungen verglichen, gezogen und auf
die Grundbegriffe des Vollkommenen und Schönen
zurückgeführt hat.

Ich sehe nicht, warum ein Mensch mit seinen
Schlüssen zurückhaltender sein müsse als mit seinen
Empfindungen. Der Kunstrichter empfindet nicht bloss,
dass ihm etwas nicht gefällt, sondern er fügt auch noch
sein denn hinzu. Und dieses denn sollte ihn zum
Bessermachen verbinden? Durch dieses denn müsste er
gerade des Bessermachens überhoben sein können.

Freilich, wenn dieses denn ein gutes, gründliches

denn ist, so wird er leicht daraus herleiten können, wie
das, was ihm missfällt, eigentlich sein müsste, wenn es
ihm nicht missfallen sollte.

Aber dieses kann den Kunstrichter höchstens ver-
leiten, einen Fingerzeig auf die Schönheit zu geben,
welche anstatt des getadelten Fehlers da sein könnte
und sollte.

Ich sage verleiten; den verleitet wild man zu
Dingen, zu welchen man nicht gezwungen werden kann,
und zu Dingen, welche übel ausschlagen können.

Wenn der Kunstrichter zu dem dramatischen Dich-
ter sagt: anstatt dass du den Knoten deiner Fabel so
geschürzt hast, hättest du ihn so schürzen sollen; an-
statt dass du ihn so lösest, würdest du ihn besser so ge-
löst haben: so hat sich der Kunstrichter verleiten lassen.

Denn niemand konnte es mit Recht von ihm ver-
langen, dass er sich so weit äusserte. Er hat seinem
Amte ein Genüge geleistet, wenn er bloss sagt: dein
Knoten taugt nichts, deine Verwicklung ist schlecht
und das aus dem und dem Grunde. Wie sie besser sein
könnte, mag der Dichter zusehen.....

FRANZ DOMSCHEIT, FLUCHT

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