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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 12
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Bulle, Ferdinand: Hodler
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0486

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Dort existiert der Begriff des Ganzen als einer ein-
heitlichen Totalität noch nicht, aber die Zeit bewegt
sich zu ihm hin; hier wird das Erworbene mehr
oder weniger bcwusst geopfert.

Der Begriff der Spannung, wie wir ihn eben
schilderten, ist das Mittel den Zusammenhang der
Natur zu zerreissen; die Einheitlichkeit der Jm-
pression wird bewusst aufgehoben; ein Ruck,
Riebtungen, Ziele unterbrechen den Strom des
Empfindens: das Bild tritt in Teile auseinander; das
Waldesdickicht, das Durcheinander der Bachkiesel,
der wilde Haufe eines Schlachtgetümmels teilt sich;
das Gegenüber tritt an die Stelle des Nebeneinander;
jeder Satz hat seinen Gegensatz. In Stufen baut
sich etwas auf

Der Impressionismus hatte das Ganze malen
wollen; Hodler giebt das Zusammengesetzte; früher
das Unteilbare und Unaussprechbare, bei Hodler das
Ubersichtliche und Prägnante; früher den einheit-
lichen, malerischen Eindruck, bei Hodler das
zeichnerisch genau Begrenzte; früher die malerische
Qualität, die tonigen Werte, bei Hodler Farbigkeit
als Ausdruck. An die Stelle der malerischen
Sinnlichkeit, der malerischen Kultur tritt der
subjektive Wille zum Ausdruck; an die Stelle eines
menschlichen Allgemeinverhaltens, einer Hingabe
des ganzen Menschen die Selbstbewahrung, die
innere Freiheit.

Damit zerreisst auch der Zusammenhang zwischen
Künstler und Werk, wie der zwischen Be-

schauer und Werk. Wem fiele nicht der Mensch
des achtzehnten Jahrhunderts, und besonders der
Preusse des Aufklärungszeitalters ein, für den es
keine Natur gab, für den sie nur das Chaos war!
Was dort die Herrschaft der Vernunft bedeutete,
ist hier die Herrschaft der Form und des Willens.
Trotz der Ungeheuern Unterschiede besteht die
Verwandtschaft in der Wertung der Freiheit und in
dem Pathos des Herrschaftsverhältnisses der Natur
gegenüber.

In erster Linie die negativen Seiten dieser Kunst
hat der Expressionismus aufgenommen. Bei ihm
wird der Zusammenhang, der organische Wuchs
derErscheinungennoch weiter auseinandergespannt;
wie viele dieser Bilder sind nichts als ein Zerreissen
der Erscheinung. Bei den Gemässigten der neuen
Generation werden Hell und Dunkel, die Farbwerte,
die Linien in eine gegensätzliche Bewegung gebracht,
und dadurch der Eindruck einer Spannung und
Deutlichkeit, einer gewissen subjektiven Kraft
hervorgerufen; diese antithetische Spannung führt
notwendig zu einer Steigerung der Sprache und zu
prägnanter Klarheit. Es kann nicht geleugnet
werden, dass hier die Möglichkeit künstlerischer
Werte liegt, aber wie erschreckend nahe liegen
Klarheit und Plattheit, Kraft und Hohlheit!

Hodler ist dieser Klippe entgangen; eine be-
deutende, mächtige Welt hat er geschaffen; aber
eine letzte Tiefe ist ihm versagt, das Subjekt allein
ist nicht verehrungswürdig.

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