Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe (16.1918)

STEPHAN LOCHNER, DIE GEBURT CHRISTI
ALTENBURG

Darum förderte es den Künstler in einer heute
nicht mehr vorstellbaren Weise. Der neuere Künst-
ler verbraucht von seiner besten Kraft,, um neue
bedeutende Bildmotive zu ersinnen und Erscheinun-
gen der Umwelt mit „Gehalt" zu füllen; oder er
betrachtet das Motiv als unwesentlich und wendet
sein ganzes Interesse der Malerei an sich zu. Die
Bedeutung der Stoffe in der alten Kunst bestand
aber darin, dass sie dem Maler einerseits die Sorge
um den Gegenstand der Darstellung abnahmen und
dass sie ihn anderseits zu einer gewissen Würde
anhielten; sie verhinderten, dass die Kraft am Gleich-
gültigen verzettelt wurde und leiteten die Begabung
an, sich ungeteilt der Formgestaltung zu widmen.
In den grossen Zeiten der Malerei ist die monu-
mentale Form nicht zuletzt eine Wirkung der mo-
numentalen Stoff beschränkung. Die Darstellungen
aus der Passion oder aus dem Marienleben sind so

MEISTER DES HAUSBUCHS, ANBETUNG DER HIRTEN

MÜNCHEN, ALTE PINAKOTHEK

oft zum Meisterhaften geraten, weil die Stoffe
eine unausmessbare menschliche Tiefe haben, weil
jeder Maler seine persönliche Empfindung hinein-
legen konnte, ohne sich selber oder dem Stoff Ge-
walt anzuthun und weil die AUgemeingültigkeit
der Motive mit innerer Notwendigkeit die Endgül-
tigkeit der Form forderte. Verloren gegangen ist
diese grosse Selbstbeschränkung im Stofflichen in
dem Maasse, wie die Kunst den Charakter des Sa-
kralen verloren, wie sie bürgerlich profan geworden
ist. An die Stelle eines aufgegebenen Motivs sind
hundert neue Motive getreten. Seit das religiöse,
allgemein verständliche und für jeden bedeutungs-
volle Motiv preisgegeben worden ist, hat jeder
Maler die Freiheit der Stoffwahl; doch hat er
auch die Qual dej: Wahl. Er scheint jetzt unab-
hängiger vom Motiv zu sein, ist in Wahrheit aber
unfreier, weil er sich um das Motiv sorgen muss.

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