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Kleinpaul, Rudolf; Heinrich Schmidt & Carl Günther [Contr.]
Neapel und seine Umgebung: mit 142 Illustrationen — Leipzig: Heinrich Schmidt & Carl Günther, 1884

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https://doi.org/10.11588/diglit.55172#0092
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(i) Der Farnesische Hercules (Ercole Farnese), marmorne Kolossalstatue, an
5 m hoch, laut Inschrift ein Werk des Atheners Glykon, welcher um den Anfang der Kaiserzeit
gelebt zu haben scheint: dafür spricht die Aushöhlung des Augensternes und die Form des Buch-
stabens Omega in dem Namen Glykon {FAYKS2N), welche auf Inschriften erst kurz vor der christ-
lichen Aera angewendet wurde. Da ihn Plinius nicht erwähnt, so darf man vielleicht schliessen,
dass das Werk sogar erst nach dem Jahre 77 entstanden ist. Es gilt für die Nachahmung einer
Statue des Lysippus, welcher das Ideal des Hercules gegen Ende des vierten Jahrhunderts aus-
gebildet und namentlich den Erzkoloss des trauernden Hercules in Tarent hervorgebracht hatte;
auch in unserem Falle war das Original eine Bronzestatue. Und zwar als solche vermuthlich
eine noch vorzüglichere Schöpfung, frei von der übertriebenen Massenhaftigkeit und Unbeholfen-
heit der Copie; diese Fehler sind darauf zurückzuführen, dass Glykon das lysippische Erzbild in
Marmor übertrug und die Verschiedenheit des Materials nicht in Betracht zog. Trotz alledem ist
und bleibt der Farnesische Hercules eins der vollkommensten Werke alter Zeit.
Die Nasenspitze und die linke Hand sind ergänzt; auch die Beine, von den Knieen bis an
die Knöchel, fehlten anfangs und wurden von dem lombardischen Bildhauer Guglielmo della Porta
kurz nach der Auffindung ersetzt (1540). Im Jahre 1560 entdeckte man auf Borghesischem Grund
und Boden, sonderbar genug, drei Meilen weiter, die echten alten Beine, die nachmals in die
Villa Borghese zu stehen kamen. Als nun der König von Neapel im Jahre 1787 den Hercules
Farnese nach Neapel bringen liess, gewann es der Prinz Borghese, in der Erwägung, dass es
schwerer sei, einen Körper zu den Beinen, als Beine zu dem Körper zu bekommen, über sich,
dem König diese köstlichen Reste zu verehren. Es ging sich besser mit eignen, als mit fremden
Beinen nach Campanien. Am 20. Juni 1787 war der ganze Hercules, wie Goethe schreibt, schon
auf der Wanderschaft. Ursprünglich hatte Michel Angelo neue Beine daran gesetzt, sie aber
zerbrochen, weil es nicht Sache eines Menschen sei, das Werk von Göttern zu vollenden: der
grosse Künstler, der einmal eine Statue gemacht, absichtlich verstümmelt und in den Baugrund
eines Hauses vergraben hatte, worauf man die Bildsäule fand und für antik erklärte, bis der
Meister den abgebrochenen Arm vorzeigte — dieser Nebenbuhler der Phidias und Lysippus
wagte es nicht, an einen Glykon mit seiner modernen Hand zu tasten.
Der Farnesische Hercules stellt den gewaltigen, mit übermenschlicher Kraft begabten,
aber auch übermenschlich angestrengten Helden dar, wie er nach Vollbringung seiner letzten,
schwersten Arbeit, mit den goldnen Aepfeln der Hesperiden in der rechten, auf den Rücken
gelegten Hand, matt und müde mit der linken Achsel auf seiner Keule lehnt, die auf einen
Felsblock aufgestützt ist; um weicher zu ruhn, hat er die Löwenhaut untergelegt. Sein Körper
ist entwickelt wie der eines alten Turners: gleich gedrungenen Hügeln schwellen die Muskeln
der Arme und der Beine, der Brustkasten hat sich bei den fortwährenden Uebungen mächtig
ausgedehnt, die weitausladenden Schultern vermöchten einen Farnesischen Stier mit Leichtigkeit
zu tragen, wo dieser grosse Christoph hinschlägt, da wächst kein Gras mehr. Also nennt den
Farnesischen Hercules bezeichnend das hessische Volk, indem es ihn mit dem Riesen Christophorus
verwechselt; bekanntlich steht eine kolossale Nachbildung des neapolitanischen Kolosses, aus
Kupfer getrieben, auf der Pyramide, welche die Plattform des Riesenschlosses von Wilhelmshöhe
krönt. Jene Pyramide figurirt unter den höchsten Bauwerken und Denkmälern der Erde, das
Ganze ist 98,8 m, der Hercules 10 m hoch; die kupferne Keule, welche 3 m im Durchmesser
hat, kann acht bis zehn Personen in sich aufnehmen. Eine Fensteröffnung in derselben gewährt
die unbeschränkteste Aussicht bis zum Inselsberg und bis zum Brocken. Aber so sehr auch
dieser Halbgott äusserlich über die gewöhnlichen Formen der Menschheit erhoben ist, im Grunde
steht er doch als ein rechter Mensch und ein rechter Kämpfer da. So sieht ein Knecht aus,

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