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Künstle, Karl; Friedrich <I., Baden, Großherzog> [Gefeierte Pers.]
Die Kunst des Klosters Reichenau im IX. und X. Jahrhundert und der neuentdeckte karolingische Gemaeldezyklus zu Goldbach bei Ueberlingen: Festschrift zum 80. Geburtstage seiner koenigl. Hoheit d. Grossherzogs Friedrich von Baden — Freiburg i. Br. [u.a.], 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.7735#0023
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I. Die Kunstgeschichte des Klosters Reichenau im 9. und 10. Jahrhundert.

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quellen erhalten, die uns den Verlust der Denkmäler einigermaßen ersetzen.
Ich verweise nur auf die metrischen Uberschriften zu Wandgemälden von Alkuin,
Hraban, Florus von Lyon, Sedulius Scotus, Ermoldus Nigellus k Viel wichtiger
sind für unsern Zweck die «Carmina Sangallensia» 2, insofern sie uns lehren,
wie man sich im 9. Jahrhundert die monumentale Ausschmückung einer großen
Abteikirche am Bodensee dachte. Für den Ostchor waren zehn Bilder aus der
Jugendgeschichte Christi bestimmt, für die rechte Seite des Langhauses zwanzig
aus dem öffentlichen Leben Jesu, für die linke Seite jedoch nur zehn aus der
Einleitung zur Leidensgeschichte. An der Westapside war das Jüngste Gericht
geplant. War dieser Zyklus auch wirklich ausgeführt, oder liegt nur ein
Ideenentwurf eines gelehrten Theologen vor, etwa des Walahfrid Strabo, der
uns für die Bodenseegegend im 9. Jahrhundert allein als gewandter Verfasser
solcher Tituli bekannt ist: Schlosser3 und Leitschuh4 nehmen das erstere an.
Ich möchte mit Springer0 doch einige Bedenken äußern, nicht allein wegen der
unregelmäßigen Verteilung der einzelnen Bilder, sondern weil St Gallen im
9. Jahrhundert keine eigene Malerschule besaß; denn Abt Grimald (841—872)
sah sich genötigt, als er seine Pfalz mit Bildern schmücken wollte, Künstler
aus der Reichenau kommen zu lassen :

Aula palatinis perfecta est ista magistris;
Insula pictores transmiserat Augia clara6.

Ihrer bediente sich wohl auch Abt Hartmut, als er um das Jahr 872 die
Schiffswände der Abteikirche mit goldglänzenden Gemälden versehen ließ, über
deren Inhalt wir noch Kunde haben. An der einen Wand wurde die Weisheit
mit ihren Attributen angebracht, gegenüber die sieben Weisen, am Triumph-
bogen die Lobpreisung der Heiligen vor dem Throne Gottes 7.

Diese Darstellungen lassen sich nicht wohl mit dem überreichen Zyklus
der Carmina Sangallensia vereinigen, und ich glaube daher, daß jene gar nicht
für St Gallen bestimmt waren, sondern ein Programm für die Aus-
schmückung der von Hatto I. erbauten Kirche in Reichenau-
Mittelzell bildeten. Doch finden sich hier, was bei den vielen Bauverände-
rungen auch wohl begreiflich ist, keine Gemälde mehr vor. Daß die Oberwände
des Mittelschiffs einst solche trugen, ist ganz gewiß; denn einmal besaß Reichenau
um diese Zeit eine blühende Malerschule, die auch auswärts in Ansehen und

1 Abgedruckt bei Schlosser, Schriftquellen 305 ff.

2 Schlosser a. a. O. 326; vgl. auch dessen «lieiträge zur Kunstgeschichte aus den Schriftquellen des
frühen Mittelalters» : Wiener Sitzungsberichte, phil.-hist. Klasse CXXIII 19 ff.

3 Schriftquellen 329. 4 A.a.O. 6S ; vgl. auch Kraus, Die christl. Inschriften der Rheinlande II 10.
6 A. a. O. 139.

6 Vgl. Dum inier, St Gallische Denkmale aus der karolingischen Zeit: Mitteilungen der antiquarischen
Gesellschaft in Zürich XII 213—214, und Schlosser a. a. O. 140.

7 Vgl. Dümmler a. a. O. und Neuwirth 19.

Künstle, Kunst des Klosters Reichenau. 2
 
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