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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 29.1918

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Der Geist der Gotik
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https://doi.org/10.11588/diglit.6188#0083

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KUNSTCHRONIK

Neue Folge. XXIX. Jahrgang 1917/1918 Nr. 14. 11. Januar 1918

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 10 Mark
Man abonniert bei jeder Buchhandlung, beim Verlage oder bei der Post. Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden,
leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A Seemann, Leipzig, Hospitalstr. IIa.
Abonnenten der Zeitschrift für bildende Kunst erhalten Kunstchronik und Kunstmarkt kostenfrei. Anzeigen 30 Pf. die Petitzeile; Vorzugsplätze teurer.

DER GEIST DER GOTIK

Es ist kein Zufall, daß die neueren Versuche, das
Wesen der Gotik zu ergründen, mehr spekulativ-in-
duktiver, als empirischer Art sind. Die Arbeitsmethode
der Kunstwissenschaft beruht auf der Anschauung,
auf der Formuntersuchung. Darum erschließt sich
'ihr eine bewußt für das Auge gestaltete, geklärte und
meßbare Kunst, wie die der Renaissance, leichter als
eine unmittelbarer aus starkem Gefühl und heftigem
Wollen hervorgegangene, wie die Gotik. Über die
Formprobleme der Gotik gibt es bisher noch keinen
Aufschluß, wie ihn für die Renaissance die Arbeiten
von Burckhardt, Thiersch, Wölfflin und Frankl ge-
währen. Für die Architektur zwar liegt das Rohmaterial
in der »Kirchlichen Baukunst des Abendlandes« von
Dehio und v. Bezold vortrefflich gesammelt vor;
ein ernsthafter Versuch ihrer formalen Deutung aber
ist nur für einen kleinen Teil durch Gerstenbergs
Dissertation über »Deutsche Sondergotik« (Delphin-
Verlag, 1913) unternommen worden. Die Forschungen
über Malerei und Bildnerkunst greifen noch kaum
über das Materialsammeln hinaus.

Den Mangel an eindringlichen formalen For-
schungen bemühen sich neuerdings Untersuchungen
auszugleichen, die nicht von der Anschauung, son-
dern von »intuitiv geleiteter Spekulation« ausgehen.
Der Vertreter dieser Methode ist Worringer. Seine
»Formprobleme der Gotik« (Piper, 1911) sind
ein starkes subjektives Bekenntnis und als solches
wertvoll, wissenschaftlich aber nicht unanfechtbar.
Vor allem legt Worringer der Erforschung der Form
nicht den Reichtum der Erscheinungen zugrunde;
sondern er wählt Züge aus, die ihm subjektiv von
Bedeutung scheinen, oder er gibt ihnen eine zuweilen
willkürliche Deutung oder verknüpft sie mit subjek-
tiven Assoziationen. Ein glückliches Beispiel möge
seine Methode vergegenwärtigen: der Anblick schlanker
gotischer Pfeiler ruft den Eindruck einer starken Auf-
wärtsbewegung hervor; folglich ist die Gotik Be-
wegungsstil (Seite 68 f.). Die Bewegung ist der natür-
lichen Schwerkraft des Steines entgegengesetzt. Bis
hierher reicht die Anschauung. Daran knüpft sich
die Folgerung: Dieser Vorgang ist Zeugnis eines auf
das Unendliche und Unstoffliche gerichteten Wollens,
eines Bedürfnisses nach Erlösung vom Sinnlichen und
von der Materie (Seite 48 und 72). Die aus der An-
schauung gewonnene Feststellung wird man ohne
weiteres bestätigen, der Assoziation wenigstens im
vorliegenden Falle zu folgen vermögen. Doch zu-
weilen ist man zu Einwänden genötigt. Da findet
sich etwa (Seite 45) der Satz: »Aus dem Zusammen-
hange herausgenommen sind die Kathedralstatuen tot,

sinnlos und ausdruckslos; ihre geistige Ausdruckskraft
erhalten sie nur durch das Aufgehen in die abstrakte
Konstruktion, die ihren Ausdruckswert auf sie über-
gehen läßt.« Natürlich sind die Kathedralstatuen mit
der Architektur zusammen gedacht; doch auch aus
dem Zusammenhange gelöst sind viele von ihnen,
man denke nur an die Naumburger Standbilder, weit
davon entfernt, tot und ausdruckslos zu sein. Die
Übertreibung gibt demnach ein ungenaues Bild des
Tatbestandes; was für das Westportal in Chartres gilt,
trifft schon für die Querhausportale der gleichen
Kathedrale nicht mehr zu. Wie hier der Sachverhalt
nicht völlig zutreffend beobachtet ist, so gehen auch
die Folgerungen in ihrer Verallgemeinerung oft zu
weit. Man lese. z. B. (S. 50) die zusammenfassende
Kennzeichnung der Gotik: »So wird der Dualismus,
der bis zur Negation des Lebens nicht mehr aus-
reicht, der schon angekränkelt ist von Erkenntnissen,
die ihm doch die volle Befriedigung vorenthalten, zu
einer unklaren Rauschsucht, zu einem krampfhaften
Verlangen, aufzugehen in einer übersinnlichen Ver-
zückung, in einer Pathetik, deren eigentliches Wesen
Maßlosigkeit ist.«

Während den Leser in dieser Weise einerseits mit
sehr weitmaschigen Verallgemeinerungen vorlieb nehmen
muß, erhält er anderseits von der Fülle der formalen
Probleme keine Vorstellung. Und doch müßten diese
Probleme in ihrer Vielseitigkeit eine lockende Auf-
gabe der Kunstwissenschaft sein; denn, etwa von
Wölfflins Dürer und einigen Aufsätzen Voeges und
Dvoraks abgesehen, hat hier die kunstwissenschaft-
liche Arbeit noch kaum eingesetzt. Man legt heute
der Gotik noch immer den Ablauf des menschlichen
Lebens zugrunde, während doch ihre mannigfaltige
Entwicklung mit den drei Begriffen früh, reif und
spät keineswegs erschöpfend gekennzeichnet wird.
Welcher Schritt beispielsweise von der strengen, ab-
strakten Bildnerkunst am Westportal in Chartres zu
der Gelöstheit und Lebenswahrheit der Reimser
Meisterwerke und der Sibyllen eines Giovanni Pisano,
von diesen Schöpfungen über die neue Abstraktion
der Mitte des 14. Jahrhunderts zu der kraftvollen Zu-
sammenfassung eines Sluter und endlich zu dem viel-
fältig zersplitterten Formwillen der Meister des späten
15. Jahrhunderts. Damit sei nur auf die zeitlichen
Wandlungen hingewiesen. Die Fülle der Probleme,
die sich aus den örtlichen Verschiedenheiten und aus
einem rein vergleichenden Formenstudium „ ergeben,
kann hier nicht einmal gestreift werden.

Diese eigentlichen Formprobleme berührt Wor-
ringer kaum, weil die Aufgabe, die er sich gestellt
hat, im Grunde überhaupt nicht kunstwissenschaft-
licher, sondern rein psychologischer Art ist. Schon
 
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