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Kunstchronik und Kunstliteratur — 65.1931/​1932

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Heft 1 (April 1931)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61877#0005
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KUNSTCHRONIK UND KUNSTLITERATUR
BEILAGE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR BILDENDE KUNST

HERAUSGEBER: PROFESSOR DR. GRAUL / SCHRIFTLEITER: DR. NACHOD

Heft i

April

T93l

DIE PIAZZA VON VIGEVANO
VON CARL HORST

Inmitten der lombardischen Ebene, unweit von
Mailand, liegt das kleine Städtchen Vigevano, in
eine seichte Bodenfalte um den Mauerkranz einer
Herrenburg eingeschmiegt und von ungewöhnlich
hoher Stadtmauer umschlossen. Ein mächtiges ein-
teiliges Tor gewährt von Südost dem vom Bahnhofe
Kommenden Einlaß. Ein kurzer enger Straßenlauf
führt zum Hauptplatz (Abb. S. 2); die Einmündung
flankieren absonderlich verzierte Rokokohäuser.
Wir staunen beim Eintritt in diesen weiten Recht-
eckraum. Nach Nordnordost nimmt eine Schmalseite
die Schauseite der Bischofskirche ein, die Langseiten
bilden Bürgerhäuser als völlig zusammenhängende
Fluchten unter einheitlichem Dachstuhle und sich
öffnend in fortlaufenden Lauben aus Rundbögen auf
Säulen, mit dem gleichen rundbogigen Fenstertyp
im Oberstock und Rundfenstern im Halbgeschosse
darüber. Sogar die Wandmalerei — Architekturglieder
mit Nischenfiguren — ist systematisiert. Nur die man-
nigfaltig, immer aber architektonisch ausgestalteten
Schornsteine hat der herrschgewaltige Planbildner
zu selbständiger Typisierung und Verteilung freige-
geben. Aber das durchlaufende Thema wird so takt-
voll untergeordnet, daß jene durchaus die ganze
Anlage wie einen Vorhof beherrscht, ja durch sie
als optischen Maßstab an Größe gewinnt. Es ist
ebenso fein berechnet, daß nicht — wie in der Mitte
der westlichen Seite geschehen ist — der Straßenzug
vom Stadttore her, mit dem wir eintraten, hüben und
drüben abgefangen wird. Die Fluchten der langen
Platzwände machen also 3F2—4 m von der Kirchen-
schauseite entfernt Halt.
Damit rechnet der Erbauer der Kirchenschauseite.
Wir erleben hier ein vollkommenes Spiel der Täu-
schung: Die Kathedrale sollte so stattlich wie mög-
lich erscheinen, und sie sollte, auf den Hauptplatz der
kleinen Residenz bezogen, ihn beherrschen, es mußte
eine wichtige Verkehrsader der Stadt geachtet werden,
die vom Platze nach N. N. 0. ausgeht; rechts (vom
Beschauer) steht etwas weiter zurück der unfertig
gelassene ältere Campanile, dessen vordere Fläche
nicht einmal parallel zur Schauseite liegt. Den ge-
nannten Erfordernissen, um nicht zu sagen: Heraus-
forderungen, konnte der Architekt nur gerecht werden
mittels durchgreifender Verbesserungen seiner Lage.
Der kreuzförmigen Basilika mit Vierungskuppel
blendete er eine Schauseite vor, die unten in vier,
Z. f. b. K. Beilage

oben in zwei Teile der Breite nach zerlegt wurde,
eine bedenkliche Einteilungsrhythmik. Dazu werden
Pilasterpaare eingereiht, die im Obergeschosse noch
leere Nischen zwischen sich nehmen. Den oberen
Abschluß bildet eine mächtige Segmentstirn mit vor-
gelegter Inschriftkartusche, deren geschweifter Um-
riß in doppelt gerollten Voluten auf die äußeren
Felder des Untergeschosses abläuft. Man ersieht un-
schwer, daß das Ziel des Planbildners ist, mit allen
Mitteln in die Breite zu gehen. Diese Wirkung för-
dert er noch dadurch, daß er die Felder des Unter-
geschosses in Halbkreisblenden austieft und diese
mit unter sich gleichhohen Portalen besetzt, über
deren gebrochenen Segmentgiebeln er noch Ober-
lichter in geschweiften Rahmen unterbringt. Wir
nehmen an, daß es alles Eingänge in die mächtige,
breit gelagerte Kirche seien, die mittleren ins Haupt-,
und die äußeren in die Seitenschiffe. Wir schätzen
ab, daß die schlanke Vierungskuppel durch ein langes
Schiff von dem breitgelagerten Segmentgiebel ab-
gerückt sei: Das entspricht jedoch nicht der Wirk-
lichkeit: das Portal links ist Durchlaß der Fahr-
straße, das rechts, immer fest verschlossen, führt
unter der freistehenden Schauseitenmauer zum
Turme. Die Gesamtbreite der Kirche schränkt sich
mithin auf die beiden mittleren Felder mit ihren
seitlichen Begrenzungen ein. Das ergibt die Enge
des Vierungsraums, über dem sich die Kuppel wölbt,
ihre steile Schlankheit. Ihr Gegensatz zu der breiten
Lagerung vorn in nächster Nähe des Beschauers ist
auch nicht durch großen Abstand von dieser be-
dingt: die Kirche ist durchaus nicht lang! Noch weiter
geht der Architekt: der ganzen Breite nach ist die
Schauseite, wenn auch seicht, geschweift. Das wirkt
dem Eindrücke des Zurückfliehens kleinerer Seiten-
teile glücklich entgegen, bei entfernter Aufstellung
des Beschauers in der Mittelaxe. Vom gleichen Stand-
punkt aus wird er — wenn er es ernst nimmt! — un-
sicher im Berechnen des wirklichen Abstandes der
Enden der Langseiten am Platze von den äußeren
Kanten der Kirchenschauseite, er schätztjene Straßen-
mündung breiter ein, zumal ja die Breite jenes
„Blendwerkes“ der N. N. 0.-Seite die Platzwand noch
nicht völlig ausfüllt, sondern noch ganz schmale
„Flügel“ in anderer kleinteiliger Struktur angeklebt
sind. Das Auge sieht daher die Kirche weiter zurück-
stehend und infolge der eigentümlichen Vereinbarung
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