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Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin [Hrsg.]
Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler — 55.1919/​1920 (Oktober-März)

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Nr. 22 (27. Februar 1920)
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Voss, Hermann: "Künstlergeschichte" oder "Kunstgeschichte ohne Namen"?: Entgegnung an Heinrich Wölfflin
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https://doi.org/10.11588/diglit.29588#0474

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436 »Künftlergefdiichte« oder »Kunftgefdiichte ohne Namen«?

hiltorifdien Bild eigentümlidien Übergänge und Nüancierungen fdheint einfadi
unerwiinfdit, weil fie dem nadi Synthefe, d. h. Vereinfadiung und gefetzmäßiger
Verallgemeinerung Strebenden feine Aufgabe erfdhwert.

Idi fielle hier nidit die Sdiuld einer befiimmten Perfon feft, denn offen-
fichtlidi handelt es fidi bei diefer Erfcheinung um eine jetzt weitverbreitete
Neigung, die fidi bei den Einzelnen allerdings in verfchiedenfter Weife äußert.
Beifpiele zu nennen dürfte kaum notwendig fein. »Der fruchtbare Kern eines
foldien Strebens zur Synthefe foll gewiß nidit verkannt werden. Aber es
hat heute den Anfdiein, als würde mit der Hypoftafierung des Begrifflidien
einerfeits und der Mißachtung des Individuellen auf der anderen Seite ein
nidit ungefährliches Spiel getrieben.« So äußerte idt mich im Vorwort meines
Buches, und ich kann nicht anders, als diese Worte hier zu unterftreichen.
Daß jede Synthese fich durdi die Tatfadien rechtfertigen laffen muß, ift nach
Wölfflin überflüffig zu fagen. Was ich aber nicht für überflüffig halte, aus*
drüddich hervorzuheben, ift diefes: daß eine Synthefe nur gewagt werden
kann bei voller Beherrlchung des dafür in Frage kommenden Tatfachenmate-
rials. Denn leider ift es eben fchledhterdings ein Faktum, daß der für das
hiftorifthe Verhalten der Barodc= zur Renaiffancemalerei geradezu ausfthlag-
gebende Zeitraum von 1520^1600 bisher kaum in feinen wefentlichften
Beftrebungen bekannt war, und daß trotzdem über das Renaiffance=Barodc-
phänomen die kiihnften — und verkehrteften — fynthetifthen Darftellungen
in die Luft hineingebaut worden find.

Hier ift die Stelle, wo von der primären Aufgabe, von der abfoluten Un-
entbehrlichkeit der »Künftlergefchichte« zu reden ift. Ift es felbftverftändlich, daß
fich jede Synthefe durch die Tatfachen rechtfertigen laffen muß, fo ift Iogifdher-
weife eine exakte Kiinftlergefchichte die notwendige Vorausfetzung fiir eine
»Kunftgefchichte ohne Namen«. Was find denn die gefchichtlidhen Tatfadhen
anderes als die Zurüdcführung des einzelnen Kunftwerkes auf feinen Urheber,
feine richtige chronologifche Anfetzung in bezug auf das Leben und die übrigen
Werke desfelben Künftlers und die Beftimmung etwaiger Beriihrungspunkte mit
dem Schaffen anderer, zeitgenöffifcher oder früherer, Meifter? Alles dies aber find
Aufgaben, die nur durch die Künftlergefchichte, und zwar mit Hilfe der ftil-
kritifchen und philologifdhen Methode zu löfen find. Erft wenn fo ein ficheres
Gebäude von Tatfachen gefchaffen ift, kann eine Synthefe einfetzen, die mehr
als bloße individualiftifche Willkür ift.

Indeffen ift dies nur die eine Seite der »Künftlergefdiichte«. Da fie das
Kunftwerk als Emanation eines beftimmten Individuums auffaßt, fo wird fie
gezwungen, fich fowohl mit den pfychologifchen Bedingtheiten des Sdialfens
diefer Perfönlichkeit zu befchäftigen wie auch mit ihrer Stellung innerhalb eines
weitergefpannten geiftigen Zeitzufammenhanges. Das führt zu der Erkenntnis,
 
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