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Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin [Hrsg.]
Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler — 55.1919/​1920 (Oktober-März)

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Nr. 22 (27. Februar 1920)
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Voss, Hermann: "Künstlergeschichte" oder "Kunstgeschichte ohne Namen"?: Entgegnung an Heinrich Wölfflin
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https://doi.org/10.11588/diglit.29588#0475

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Künftlergefdiidite« oder »Kunitgefdiichte ohne Namen«?

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daß ein Kunftwerk, wie es heute von uns »naiv« gefehen und verftanden
wird, unter Umfiänden etwas wefentlich Anderes ift als das, was es feinem
Schöpfer und der Mitwelt war, als es entfiand. Um aber, foweit dies üher-
haupt möglidt ift, demjenigen nahezukommen, was das Kunfiwerk nicht dem
anders gerichteten modernen Empfmden, fondern dem gleidi gerichteten feiner
eigenen Zeit bedeutete und galt, hilft nur die hiftorifche Einfiihlung auf mög^
lidift breiter Bafis. Als Beifpiel fei Michelangelo genannt, deften Sdtöpfungen
von den einen »naiv« verftanden werden, von den anderen vertieft, d. h. auf
Grund intimer Einfühlung in die Perfönlichkeit des Schaffenden und ihre SteU
lung innerhalb der gefamten Geiftigkeit ihrer Zeit. Dasfelbe gilt von Raffael,
der in feiner eigentlichen Bedeutung von unvorgebildeten modernen Betrach-
tern kaum annähernd verftanden werden kann, während er, eingefügt in den
Rahmen der gefamten Beftrebungen feiner Zeit und Umweft, alsbald feine
klaren Umriffe erkennen läßt.

Es liegt im Wefen der »Künftlergefthichte«, daß fie fich philofophifthen
Abftraktionen und äfthetifthen Verallgemeinerungen bis zu einem gewiflen
Grade widerfetzt. fnfolge der Fülle der Übergänge, der individuellen EinzeU
fälle, der lokalen Spielarten ufw., die fie erkennen und darftellen lehrt, wird
fie gegen die Aufftellung von Entwiddungstypen oder =ftufen, wie fich
Wölfflin ausdrüdct, einigermaßen fkeptifth. Sie erlebt es aufs Intenfivfte mit,
wie alle Entwicklung ein ewiger Fluß ift, und zieht vor, ftatt mit feften, derben
Linien, das Bild des Gefchehens vielmehr in feinen Schattierungen und Halb*
tönen anzulegen, die ihr dem wahren Wefen der hiftorifchen Kontinuität beffer
zu entfprechen fcheinen. Wer wollte leugnen, daß einer folchen differenzierten
Darftellung gegentiber auch jene vereinfachende Betrachtungsweife ihr Recht
befitzt, die unter Preisgabe der einzelnen Nüance das Fernbild des Ganzen
in den harten, fich leicht einprägenden Konturen eines Holzfchnittes umreißt?
Sie ift auf einer gewiffen Stufe des hißorifchen Einfühlens überhaupt nicht zu
entbehren, und die Erfahrung lehrt, daß fie durch ihre leichte Verftändlich^
keit und Anfchaulichkeit namentlich den der Kunft noch Fernftehenden ftark
für fich zu gewinnen vermag.

Neben der oben gefchilderten Art der kunftgefthichtlichen Darftellung
wird fie jedoch m. E. ftets nur eine fekundäre Bedeutung beanfpruchen dürfen.
Abgeleitet von der aus primären Quellen fthöpfenden »Künftlergefthichte«,
weift fie als Form der Gefthichtserkenntnis offenfichtliche Gebrechen auf. Ganz
anders aber ift fie zu bewerten, wenn fie fich nicht darauf verfteift, mit der
»Künftlergefchichte« zu rivalifieren, fondern diefe unter Erkenntnis ihrer Eigen-
art zu ergänzen. Wieviel Anregendes und Förderndes fie an fich zu leiften
fähig ift, dafiir bietet Wölfflins gefamtes Schaffen — nicht nur die »Kunfi>
gefchichtlichen Grundbegriffe« — felber das befte Beifpiel. Niemand denkt
 
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