Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 11,1.1897-1898
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https://doi.org/10.11588/diglit.7955#0011
DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1897)
DOI Artikel:Wo stehen wir?, [1]
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Mo steben wir?
^Vehn Jahre lang hat nun dcr Kunstwart mit seinen Freunden die
Reiche und die Grenzgebiete der Kunst durchwandert, — bevor er
heute zum Weiterweg einlädt, hat er Rede zn stehen auf die Frage:
wo sind wir? Wir müssen wieder einmal die wichtigsten Ergebnisse
dessen, was wir gesehen, zu sammeln suchen in einen Ueberblick,
um uns so klarer zu werden nicht nur über das Verhältnis der
Höhen und Thäler rings zu einander, sondern auch zu uns. Spricht
aber ein Führer über eine Aussicht, so legt er zugleich eine Prüfung ab
über sich selbst. Unbildlich gesprochen: unsere Leser müssen wissen, wie
diejenigen über ein Kunstgebiet als Ganzes denken, deren Urteile über
die einzelnen Fragen und Werke sie hören. Wir haben deshalb unsre
ständigen Mitarbeiter gebeten, sich in Knappheit über den Stand der
Künste auszusprechen, und unterbreiten nun ihre Zuschriften den Lesern.
Jedes der folgenden, wir möchten sagen: Gutachten hat einen andern
fachmännischen Beurteiler zum Verfasser, denjenigen, der im Kunstwart
vorzugsweise das betreffende Gebiet bespricht.
D i ch t u n g.
Wie sämtliche Gebiete der Kunst, zeigt auch das der Dichtung
während des verflossenen Jahrzehnts das Schauspiel heftiger Kämpfe.
Jm Jahre s885 etwa war ein neuer Sturm und Drang losgebrochen,
der, zunächst gegen die konventionelle Schönheitspoesie der Münchner und
den alle wahre Dichtung zu Gunsten ebenso anmaßender wie oberfläch-
licher Zeitungs- und Theaterschriftstellerei zurückdrängenden Feuilletonis-
rnus gerichtet, weiterhin über das Ziel hinausging: er verlangte den
völligen Bruch mit der Vergangenheit, erklärte nicht bloß die Klas-
siker, selbst Goethe, für überwunden und bedeutungslos für die Weiter-
entwicklung des deutschen Volkes, sondern ignorierte, ja schmähte auch die
großen selbständigen nachklassischen Dichter, von denen manche, wie Gott-
^Vehn Jahre lang hat nun dcr Kunstwart mit seinen Freunden die
Reiche und die Grenzgebiete der Kunst durchwandert, — bevor er
heute zum Weiterweg einlädt, hat er Rede zn stehen auf die Frage:
wo sind wir? Wir müssen wieder einmal die wichtigsten Ergebnisse
dessen, was wir gesehen, zu sammeln suchen in einen Ueberblick,
um uns so klarer zu werden nicht nur über das Verhältnis der
Höhen und Thäler rings zu einander, sondern auch zu uns. Spricht
aber ein Führer über eine Aussicht, so legt er zugleich eine Prüfung ab
über sich selbst. Unbildlich gesprochen: unsere Leser müssen wissen, wie
diejenigen über ein Kunstgebiet als Ganzes denken, deren Urteile über
die einzelnen Fragen und Werke sie hören. Wir haben deshalb unsre
ständigen Mitarbeiter gebeten, sich in Knappheit über den Stand der
Künste auszusprechen, und unterbreiten nun ihre Zuschriften den Lesern.
Jedes der folgenden, wir möchten sagen: Gutachten hat einen andern
fachmännischen Beurteiler zum Verfasser, denjenigen, der im Kunstwart
vorzugsweise das betreffende Gebiet bespricht.
D i ch t u n g.
Wie sämtliche Gebiete der Kunst, zeigt auch das der Dichtung
während des verflossenen Jahrzehnts das Schauspiel heftiger Kämpfe.
Jm Jahre s885 etwa war ein neuer Sturm und Drang losgebrochen,
der, zunächst gegen die konventionelle Schönheitspoesie der Münchner und
den alle wahre Dichtung zu Gunsten ebenso anmaßender wie oberfläch-
licher Zeitungs- und Theaterschriftstellerei zurückdrängenden Feuilletonis-
rnus gerichtet, weiterhin über das Ziel hinausging: er verlangte den
völligen Bruch mit der Vergangenheit, erklärte nicht bloß die Klas-
siker, selbst Goethe, für überwunden und bedeutungslos für die Weiter-
entwicklung des deutschen Volkes, sondern ignorierte, ja schmähte auch die
großen selbständigen nachklassischen Dichter, von denen manche, wie Gott-