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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 11,1.1897-1898

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Heft 8 (2. Januarhfet 1898)
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Lose Blätter
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Vom Tage
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https://doi.org/10.11588/diglit.7955#0278

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(Spiritualismus.) Der Spiritualismus ist diejenigeArbeitsscheu, welche
aus Mangel an Einsicht und Gleichgewicht der Erfahrung hervorgeht und den
Fleiß des wirklichen Lebens durch Wunderthätigkeit ersetzen, aus Steinen Vrod
machen will, anstatt zu ackern, zu säen, das Wachstum der Aehren abzuwarten,
zu schnciden, zu dreschen, mahlen und backen. Das Herausspinnen einer fin-
gierten, künstlichen, allegorischen Welt aus der Erfindungskraft, mit Umgehung
der guten Natur, ist aber nichts anderes, als jene Arbeitsscheu; und wenn
Romantiker und Allegoristen aller Art den ganzen Tag schreiben, dichten,
malen und operieren, so ist dies alles nur Trägheit gegenüber derjenigen
Thätigkeit, welche nichts anderes ist alS das notwendige und gesetzliche Wachs-
tum der Dinge. Alles Schaffen aus dem Notwendigen heraus ist Leben und
Mühe, die sich selbst vcrzehren, wie im Blühen das Vergehen schon herannaht;
dies Erblühen ist die wahre Arbeit und der wahre Fleiß; sogar eine simple
Rose muß jvom Morgen bis zum Abend tapfer dabei sein mit ihrem ganzen
Korpus und hat zum Lohne das Welken. Dafür ist sie aber eine wahrhaftige
Rose gewesen. Gottfried Keller, Grüner Heinrich, tll, S. ;b.

Vom

Literatuv.

* Datz Herman Grimms sieb-
zigster Geburtstag so vielfach Teilnahme
erweckt hat, war doch eine Freude zu
sehn schon deshalb, weil es einmal
nicht die Bcwunderung toter Kennt-
nisse noch praktisch ausnutzbarcr For-
schererfolge war, was zu der beson-
deren Hvchachtung dieses Mannes in
so weiten Kreisen führen konnte. Mag
immerhin bei dieser Verehrung ein
wenig Ueberschätzung dessen sein, was
man zum Unterschiede von »geistvoll"
nur .geistreich" nennt, es weitz jetzt
nachgerade jeder Gebildete, daß man
Grimmsche Essays nur mit reichlicher
Zuthat des bewußten Salzes gcnietzen
darf, und Grimm ist oft genug auch
im besten Sinne geistvoll. Wer jenes
Salz zu brauchen weitz, wird keine
seiner Arbeiten ohne Nutzen lesen, nicht
einmal die in ihren Urteilen ja beinahe
drollige über Frau Ambrosius, deren
Verfehltheit Grimm jetzt mehrfach vor-
gehalten wurde. Es kommt cben bei
seinen Gedankengängen nicmals so sehr
auf das Endziel an, als auf den Weg.
Herman Grimms Name wird noch lange
wohlklingen als der eines der ersten
AnrcgerunsrerZeit in literarischenund
kunstkritischeu Fragen.

" Von Leo Tolstojs nenem Werke
,über die Kunst" ist nun der erste Teil
der russischen Ausgabe erschienen. Die
herausgerissenen Sätze, die in der Presse
schon mitgeteilt werden, geben wohl

Tage.

kaum ein klares Bild; wir wollen uns
daher mit dem Werk lieber später, wenn
es vollendet vorliegt, auseinandersetzen.

Thcnter.

* Theaterzettel. Daß dic fran-
zösischen Theaterzettel Rätsel seien, die
dem Deutschen, selbst wcnn cr seinen
Ploetz und Toussaint-Langenscheid im
Kopfe hat, viel Kopfzerbrechen verur-
sachen, darüber ist aus Anlaß des GasU
spieles der RLjane in einem Berliner
Blatt bcwegliche Klage geführt worden.
Stehen da nackt und kurz die Namcn:
Thsodule, Montesson, Potard, Paul,
ohne Angabe der Verwandtschaft, des
StandeS, und derZuhörermuß lauschen,
bis er ein Wort crhascht, das ihn über
dio Beziehungcn, den Stand der auf-
tretenden Personen bclehrt. Der arme
Zuhörer! Er soll im Theater aufpassenl
Die bequcme Eselsbrücke des Theater-
zettels mit scinen Stecküriefangaben ist
rücksichtslos abgebrochen. Ach ja —
'daß es cine Kunst dcs Dichters ist, uns
mit Stand und Nainen und Verwandt-
schaft seiner Personen ohne das Hilfs-
mittel des Zettels bekannt zu machen,
die vor allem in der Exposition zu
üben ist, daran hat der Klageführende
wohl nicht gedacht. Vielen Modepoeten
wäre eine grützerc Verschwiegenheit des
Zettels nur zum Besten. Denn bei
wic vielen Stücken errüt man ja aus
dem Zettel schon alles, was uns crst
viel später interessiercn soll, Handlung,
Ausgang. Das Kunstwerk soll sich

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