Trotz aller Farbenpracht bleibt Liszt immer Musiker genug, um
nicht im bloßen „Klang" aufzugehen, wie Berlioz in der „Fes Mab",
einem Stück, in welchem das poetische Element bei weitem das musikalische
überwiegt. Noch weniger verfällt er in das entgegengesetzte Extrem:
Musik ohne Klang zu schreiben, wie die farblosen Orchesterwerke Schu-
manns oder gar diejenigen von Brahms, die man ebenso gut anders
instrumentieren könnte — oder vielmehr nicht instrumentieren kann, weil
es „abstrakte" Musik ist. Liszt ist kein falscher Asket. Ohne Sinnlichkeit
keine Kunst.
Fragen wir nun noch einmal: Wie kommt es, daß der größte
Sinfoniker seit Beethoven noch nicht nach seinem ganzen Werte allgemein
anerkannt ist?
Wcil alle Neuerer eines energischen und beredten Propagandisten
bedürfen. Beethoven, Berlioz, Wagner hätten heute noch nicht die Stellung,
die ihnen gebührt, ohne Liszt, den energischstcn und bcredtestcn Propa-
gandisten. Durch sein unvergleichliches 5klavierspiel (Berlioz und Wagner
auf dem Klavier — wer könnte das außer Liszt?), durch scinen cinzig
dastehenden Verkehr mit der Welt, vor allem durch sein Assimilations-
genie und sein großes Herz, das ihn trieb, Alles für Andere, nichts für
sich zu thun, war Liszt wie Keiner befähigt, Vermittler des göttlichen
Lichts für die Menschheit zu werden.
Aber Liszt hatte keinen Liszt zum Freunde.
Man behauptet wohl auch, wir Lisztschüler wären vom Zauber
seiner Persönlichkeit hypnotisiert, darum sähen wir so Hohes in seinen
Werken. Jch glaube, von blinder, bewußtloser Schwärmerei weit ent-
fernt zu sein. Wer aus Liszts Schaffen eine auf Grundsützen be-
ruhende Kunstanschauung gewonnen hat, ist gewiß frei von Hppnotisation.
Deshalb halte ich an meinem Liszt-Glauben fest.
Iose vianna da Motta.
Die „Dacbaner" 1n Werlin.
Es ist merkwürdig zu beobachten, wie die Aufstellung bestimmter und
bestimmender Ansichten über Kunst- und Kunstwcrke bei den Künstlcrn dic Pro-
duktion leicht und frei macht. Jedesmal, wenn sich in lebendigen Köpfcn die
Meinungcn über das Kunstwerk zur Theorie verdichtet haben, sind auch schon
Künstler da, die diese Theorie bewundern und annehmen und nun, indcm sie
für ihr Schaffen Ziel und Vorschrist haben, leicht und sicher arbeitcn. Es ist
in solchen Fällen deutlich zu erkennen, daß der betreffende führende Gcist etwas
für Vicle thatsächlich Notwendiges oder doch höchst Fördcrliches geschaffen hat.
Man denke an die Theorien eines Winckelmann und Mengs, eines Cornelius,
oder an die der Naturalisten, u. s. w. — man unterschätzte ihre Bedeutung ge-
waltig, wenn man sie nur nach ihrem Gehalt an allgemeingültiger Wahrheit
bcurteilen wollte.
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nicht im bloßen „Klang" aufzugehen, wie Berlioz in der „Fes Mab",
einem Stück, in welchem das poetische Element bei weitem das musikalische
überwiegt. Noch weniger verfällt er in das entgegengesetzte Extrem:
Musik ohne Klang zu schreiben, wie die farblosen Orchesterwerke Schu-
manns oder gar diejenigen von Brahms, die man ebenso gut anders
instrumentieren könnte — oder vielmehr nicht instrumentieren kann, weil
es „abstrakte" Musik ist. Liszt ist kein falscher Asket. Ohne Sinnlichkeit
keine Kunst.
Fragen wir nun noch einmal: Wie kommt es, daß der größte
Sinfoniker seit Beethoven noch nicht nach seinem ganzen Werte allgemein
anerkannt ist?
Wcil alle Neuerer eines energischen und beredten Propagandisten
bedürfen. Beethoven, Berlioz, Wagner hätten heute noch nicht die Stellung,
die ihnen gebührt, ohne Liszt, den energischstcn und bcredtestcn Propa-
gandisten. Durch sein unvergleichliches 5klavierspiel (Berlioz und Wagner
auf dem Klavier — wer könnte das außer Liszt?), durch scinen cinzig
dastehenden Verkehr mit der Welt, vor allem durch sein Assimilations-
genie und sein großes Herz, das ihn trieb, Alles für Andere, nichts für
sich zu thun, war Liszt wie Keiner befähigt, Vermittler des göttlichen
Lichts für die Menschheit zu werden.
Aber Liszt hatte keinen Liszt zum Freunde.
Man behauptet wohl auch, wir Lisztschüler wären vom Zauber
seiner Persönlichkeit hypnotisiert, darum sähen wir so Hohes in seinen
Werken. Jch glaube, von blinder, bewußtloser Schwärmerei weit ent-
fernt zu sein. Wer aus Liszts Schaffen eine auf Grundsützen be-
ruhende Kunstanschauung gewonnen hat, ist gewiß frei von Hppnotisation.
Deshalb halte ich an meinem Liszt-Glauben fest.
Iose vianna da Motta.
Die „Dacbaner" 1n Werlin.
Es ist merkwürdig zu beobachten, wie die Aufstellung bestimmter und
bestimmender Ansichten über Kunst- und Kunstwcrke bei den Künstlcrn dic Pro-
duktion leicht und frei macht. Jedesmal, wenn sich in lebendigen Köpfcn die
Meinungcn über das Kunstwerk zur Theorie verdichtet haben, sind auch schon
Künstler da, die diese Theorie bewundern und annehmen und nun, indcm sie
für ihr Schaffen Ziel und Vorschrist haben, leicht und sicher arbeitcn. Es ist
in solchen Fällen deutlich zu erkennen, daß der betreffende führende Gcist etwas
für Vicle thatsächlich Notwendiges oder doch höchst Fördcrliches geschaffen hat.
Man denke an die Theorien eines Winckelmann und Mengs, eines Cornelius,
oder an die der Naturalisten, u. s. w. — man unterschätzte ihre Bedeutung ge-
waltig, wenn man sie nur nach ihrem Gehalt an allgemeingültiger Wahrheit
bcurteilen wollte.
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