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Bauerochse, Andreas [Hrsg.]; Haßmann, Henning [Hrsg.]; Püschel, Klaus [Hrsg.]; Schultz, Michael [Hrsg.]
"Moora" - Das Mädchen aus dem Uchter Moor: eine Moorleiche der Eisenzeit aus Niedersachsen (Band 47): Naturwissenschaftliche Ergebnisse — Rahden/​Westf.: Verlag Marie Leidorf, 2018

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Aufsätze
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Schultz, Michael; Nováček, Jan; Mißbach-Güntner, Jeannine; Gresky, Julia: "Moora" - die "Biographie" eines Mädchens aus der vorrömischen Eisenzeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.68699#0114
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„Moora" - Die „Biographie" eines Mädchens aus der vorrömischen Eisenzeit

Einleitung
Biographien repräsentieren in der Regel die schriftli-
che Überlieferung der Lebensläufe meist prominen-
ter Menschen. In der Paläobiographik (vgl. Schultz
2011) wird versucht, anhand der Ergebnisse einer
paläopathologischen Untersuchung an den Körpern
(Mumien, Moorleichen) bzw. den Skeletten Verstor-
bener, die vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausen-
den gelebt haben, das Leben dieser Menschen in
groben Zügen zu rekonstruieren (Kunter 1989;
Schultz 1996, 2010, 2011; Schultz & Kunter
1999; Schultz & Schmidt-Schultz 1991, 2005;
Schultz et al. 2001, 2003; Schultz et al. 2014).
Eine solche Rekonstruktion wird aber immer nur
einen bruchstückhaften Charakter besitzen. Aller-
dings kann eine paläopathologische Untersuchung
oft sehr detaillierte Hinweise auf bestimmte Ereig-
nisse im Leben eines Menschen ergeben, die es in
ihrer Summe erlauben, in Grenzen eine „Biographie“
dieses Menschen zu schreiben (Schultz 2011). In
diesem Fall sprechen wir von einer Paläobiogra-
phie. In den meisten Fällen wird es sich aber weni-
ger um eine Lebensbeschreibung des Verstorbenen
als vielmehr um seine Krankengeschichte handeln.
Selbstverständlich soll eine Paläobiographie durch
eventuell vorhandene zeitgenössische Aufzeichnun-
gen und epigraphische Texte ergänzt werden. Diese
archäologische Materialgruppe liegt bei der Beurtei-
lung prähistorischer oder frühgeschichtlicher Fälle in
der Regel nur äußerst bruchstückhaft oder überhaupt
nicht vor. Eine beispielsweise in der Antike angefer-
tigte und in schriftlicher Form bis auf den heutigen
Tag überlieferte Lebensbeschreibung kann sehr wohl
in ihrer Art der Personendarstellung entsprechen,
wie wir sie auch aus heutiger Zeit kennen. Eine
solche Form der Biographie könnte - obwohl viele
Jahrhunderte seit ihrer Entstehung vergangen sind -
durchaus als eine dem wirklichen Leben sehr nahe
kommende Beschreibung angesehen werden, ist aber
keine Paläobiographie (Schultz 2011).
Da es sich bei der paläopathologischen Unter-
suchung von Moorleichen um ein vergleichsweise
junges Arbeitsgebiet handelt, liegen uns bisher noch
keine „Moorleichen-Biographien“ vor. Dieser Beitrag
soll dazu beitragen, diese Lücke zu schließen.
Methoden
Die zur Erstellung einer Paläobiographie benötigten
Daten sind in der Regel Ergebnisse einer paläopatho-
logischen Untersuchung; aber auch die Ergebnisse

einer anthropologischen sowie einer gerichtsme-
dizinischen Befunderhebung tragen maßgeblich
zur Vervollständigung einer Paläobiographie bei.
Dementsprechend kommen auch alle Methoden und
Techniken dieser wissenschaftlichen Disziplinen
zum Einsatz.
Die für die Erstellung der Paläobiographie des
Mädchens „Moora“ notwendigen Befunde wurden im
Rahmen der bereits vorgestellten Einzelberichte mit
den dort beschriebenen Methoden und Techniken
erhoben (Cranium: Gresky et al. 2015; Postcranium:
Noväcek et al. 2015; Haut und Haare: Schön et al.
2015; Computertomographie: Missbach-Güntner
et al. 2015; Mikroskopie: Schultz et al. 2015).
Die Paläobiographie des Mädchens
„Moora“
Bei „Moora“ handelt es sich um ein vergleichsweise
graziles junges Mädchen, das - wie die Zähne und die
Wachstumsfugen am Skelet zu erkennen geben - viel-
leicht schon mit 16 Jahren, sicherlich aber zwischen
dem 17. und dem 19. Lebensjahr verstorben ist.
Angeborene, also genetisch bedingte, von
der Norm abweichende Skeletveränderungen
(Varietäten), die zum Zeitpunkt des Todes dieses
jungen Mädchens ganz sicher keinen Krankheits-
wert besessen haben, hätten in einigen Fällen im
Alter - beispielsweise beim Auftreten zusätzlicher
Verschleißschäden oder Formveränderungen des
betreffenden Knochens - möglicherweise eine Prädis-
position für spätere Beschwerden darstellen können
(vgl. Gresky et al. 2015; Noväcek et al. 2015). Hierzu
zählen die Vergrößerung des auf der Rückseite des
Kreuzbeins gelegenen Ausgangs des knöchernen
Rückenmarkkanals (Hiatus sacralis), der in diesem
Fall als eine geringradig ausgebildete Spina bifida
occulta aufgefasst werden kann (vgl. Stloukal et
al. 1999), die kleinen Vertiefungen in beiden Hüft-
gelenkpfannen, der kleine eingetiefte Defekt an der
distalen Gelenkfläche des linken Schienbeins sowie
die Aussparung für einen zusätzlichen Knochenkern
an der vorderen Gelenkfläche des linken Fersenbeins
für das Sprungbein (Noväcek et al. 2015). Die zusätz-
lich ausgebildeten Knochen in der Lambdanaht des
Schädeldaches (Ossa interparietalia') sind als ganz
normale Varietäten ohne jeglichen Krankheitsbefund
zu werten (Gresky et al. 2015).
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die
kleine knöcherne Neubildung an der Rückenlehne
des Türkensattels, die eine gutartige, kleine, offenbar
langsam wachsende und sehr seltene Knochenneubil-
 
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