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Das Cha-no-yu

Versetzen wir uns im Geiste in die Hauptstraße Tokios, mit ihrem brau-
senden Geschäftsleben. In einem vornehmen, alten japanischen Hause,
von edelstem Stil, hat soeben der Besitzer seinen Diener an seine Freunde
ausgesandt, zur Einladung für eine Teestunde (Gha-no-yu).
Ein Spätwinternachmittag. In dem wundervollen alten Park hinter dem Haus,
heben sich die schönen Silhouetten der alten Kiefern von der winterlichen Luft
des Himmels ab. Hier herrscht im Gegensatz zu dem Straßenlärm vor der
Parkmauer tiefste Stille. Der Schnee schläft auf den Zweigen. Durch die enge
Gartenpforte des Gartens sehen wir fünf Männer in schöner alter, aber un-
auffälliger Tracht eintreten und auf einem schmalen Gartenpfad nach einer
im Hintergrund liegenden, uralten strohbedeckten Hütte zuschreiten. An einem
kleinen Vorraum in der Nähe der Hütte angelangt, legen sie hier ihre Schwerter
ab, die nicht mit in den geweihten Teeraum genommen werden dürfen. Schwei-
gend setzen sie sich nieder, um sich zu der Meditation und inneren Stille
vorzubereiten, die sie im Teeraum erwartet. Auf das Zeichen des Gastgebers,
welcher inzwischen alles vorbereitet, und kostbares Räucherpulver verbrannt
hat, schreiten nun die Gäste über einen kleinen, aber höchst kunstsinnig an-
gelegten Naturpfad, der nichts von mühevollem Menschenwerk verrät, zur
Teehütte; hier treten sie durch eine kleine niedrige Tür, die den Eintretenden
zwingt, sich zu bücken (als äußeres Symbol der Ehrfurcht), in den Teeraum
ein. In diesem kleinen, kaum zehn Fuß im Quadrat großen Raum ist alles
von peinlichster Sauberkeit und Frische, auf reinste Einheit mit der um-
gebenden Natur gestimmt; das kostbare Material der Hölzer ist absichtlich
unter äußerster Einfachheit verborgen. In der Nische des Tokonoma gewahren
wir ein Tuschbild, von der Hand des großen Malers Sesshu, eine tief ver-
schneite Winterlandschaft darstellend. Am daneben stehenden Pfosten, einem
Stamm, aus seltenem Naturholz, hängt eine schlichte Bambusvase, aber ein
hochgeschätztes Kunstwerk, da die Inschrift eines berühmten Teemeisters aus
früher Zeit sie als ein eigenhändiges Werk dieses Meisters bezeichnet. Ein
halb aufgebrochener Zweig des Mumebaumes in der Vase deutet symbolhaft
das draußen unter der Winterdecke schon erwachende Leben des Frühlings
an. Alles atmet feierliche Stille, damit der Zweck des Cha-no-yu „dem durch
die Hemmungen und Störungen des Lebens abgezogenen und verwirrten Geist
das seelische Gleichgewicht, die Kraft des ruhigen Versenkens wiederzugeben,
erreicht wird“. (Kümmel.)
 
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