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Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]; Dendorfer, Jürgen [Bearb.]
Das Lehnswesen im Hochmittelalter: Forschungskonstrukte - Quellenbefunde - Deutungsrelevanz — Mittelalter-Forschungen, Band 34: Ostfildern, 2010

DOI Artikel:
Müller, Jan-Dirk,: Die Ordnung des rîche in epischer deutscher Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34751#0128

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Die Ordnung des rìche in epischer deutscher Literatur

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Das ist offenbar etwas anderes als die angestammte Herrschaft kraft eige-
nen Rechts, wie sie die übrigen Fürsten unter der Oberherrschaft des Kaisers
innehaben, und entsprechend empört reagiert Marsilie zunächst auf diesen
Rat. Er kann jedoch beruhigt werden, denn der Vorschlag, sein Reich dem
Kaiser aufzutragen, soll bloß eine Finte sein, um den gefährlichen Gegner zu
veranlassen, das Land zu verlassen. Der Vorschlag soll Karl in eine Falle
locken; indem die Heiden überdies große Schätze versprechen, ist das Vorha-
ben doppelt diskriminiert.
Ein derartiges VasallitätsVerhältnis ist tatsächlich also nie beabsichtigt.
Seine implizierte politische Struktur hat einen dubiosen Ausnahmecharakter
im Machtgefüge des rìche und findet sich gerade dort, wo nicht Ordnung und
legitimes Handeln, sondern Verrat und Intrige angesiedelt sind. Im christli-
chen Reich ist legitime Herrschaft nicht an einen derartigen Unterwerfungs-
akt gebunden. Die Zwölf, darunter Roland, herrschen kraft Herkommen,
ohne dass ihnen die Herrschaft eigens übergeben werden musste. Wenn Ro-
land Genelun für die gefährliche Mission zum Heidenkönig vorschlägt, be-
zichtigt dieser ihn, er wolle ihm und seiner Familie, was ihm gehört, abneh-
men (V. 1387); dagegen verwahrt sich Roland (V. 1476-1479). Beide Male geht
es um den überkommenen Besitz, der innerhalb der Verwandtschaft weiter-
gegeben wird und der im Erbfall deshalb an Roland gehen könnte. Der Kaiser
steht außerhalb dieser familiären Auseinandersetzung. Wenn er auf seinem
Auftrag für Genelun besteht, betont er ausdrücklich, dass dieser Auftrag mit
dem Streit der beiden Barone nichts zu tun hat: diu botescapht ist min (V. 1428).
Er erinnert beide an des richis ere (V. 1490), die derartige Streitereien verbiete.
Auch Genelun stellt ausdrücklich klar, dass er die Autorität des Kaisers nicht
in Frage stellt (V. 1635-1640); noch vor Marsilie wird er Karl als übermensch-
lich starken Herrscher preisen. Oberhalb des Konfliktes der Barone gibt es
also eine Macht, der alle verpflichtet sind, doch in die Herrschaftsordnung
des riche greift diese Macht nicht ein.
Der angeblich geplanten Übertragung der Herrschaft des Marsilie an Karl
sind nur Belohnungen für bestimmte Sonderaufträge vergleichbar wie zum
Beispiel für die Entsendung Geneluns zum Heidenkönig (rituell vollzogen
durch Übergabe von Karls Handschuh) oder für den Auftrag an Roland, die
Nachhut zu führen (durch Übergabe der Fahne). In diesen beiden Fällen ist
ausdrücklich von »Lehen« die Rede, die als Lohn für den besonderen Dienst
in Aussicht gestellt werden5. Genelun will Karl für seine angeblich erfolgrei-
che Mission bei den Heiden mit leben unde aigen belohnen (V. 2897), und Ro-
land soll sogar halb Spanien als Lehen bekommen (V. 1510), Marsilie als Karls
man nur die andere Hälfte behalten. Wenn Marsilie davon hört, wertet er das
wieder als einen unverschämten Eingriff Karls in die von ihm ererbten Herr-
schaftsrechte: daz er mir min riche nenie/ und iz einem andern gebe/ und iz habe der
mit gzvalt (V. 2261-2263). Die Belehnung würde von außen in eine bestehende

5 Zu Genelun V. 2896 ff.
 
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