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Dendorfer, Jürgen [Bearb.]; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Das Lehnswesen im Hochmittelalter: Forschungskonstrukte - Quellenbefunde - Deutungsrelevanz — Mittelalter-Forschungen, Band 34: Ostfildern, 2010

DOI Artikel:
Deutinger, Roman,: Das hochmittelalterliche Lehnswesen: Ergebnisse und Perspektiven
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https://doi.org/10.11588/diglit.34751#0471

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Roman Deutinger

mit dem Sachsenspiegel Eikes von Repgow aus den 1220er Jahren sowie mit
dessen süddeutscher Weiterentwicklung im Schwabenspiegel von 1275/7616.
Überhaupt erscheint es verfehlt, »das« Lehnswesen als ein bis ins Detail
festgelegtes, statisches Modell und als überzeitliche, für das gesamte euro-
päische Mittelalter gültige Norm aufzufassen und dann alles, was diesem
Modell nicht entspricht, als Abweichung von der Norm oder gar als Ver-
fallserscheinung zu betrachten, wie man es beispielsweise mit der
Mehrfachvasallität17, der Erblichkeit der Lehen und hier besonders mit der
weiblichen Erbfolge18 oder mit den Rentenlehen19 getan hat. Umgekehrt
scheint es genauso wenig angebracht, in allen merowingisch-frühkarolin-
gischen Erscheinungsformen von Landleihe und Vasallität bloße Vorstufen
zum »eigentlichen« Lehnswesen zu sehen. Als fruchtbar, um nicht zu sagen
dringend notwendig dürfte es sich erweisen, neuere Ansätze von
Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie aufzugreifen und das Lehnswesen
insgesamt weniger als logisch-formales System, sondern als rechtlich-soziale
Praxis zu begreifen, die durch große Varietät in Zeit und Raum gekenn-
zeichnet ist. Das gelehrte Lehnrecht, das sich seit dem 12. Jahrhundert
entwickelte und dann die Grundlage für die verfassungsgeschichtlichen
Konzepte des 19. und 20. Jahrhunderts bildete, stellt jedenfalls nur einen
Ausschnitt aus dem weiten Leid lehnrechtlicher Erscheinungsformen im
mittelalterlichen - und übrigens auch, wenn nicht sogar noch mehr, im
neuzeitlichen - Europa dar.
Schließlich bleibt auch noch die Grundsatzfrage zu diskutieren, wie man
angesichts der Ergebnisse des vorliegenden Bandes, die mit den Befunden aus
anderen jüngeren Lorschungen zum mittelalterlichen Lehnswesen korres-
pondieren, diese ergänzen und teilweise sogar noch zuspitzen, künftig mit
dem Lehnswesen als Begriff und als Deutungsmodell für die Sozial-
beziehungen des Mittelalters umgehen will. Muss man sich vom klassischen
Modell, wie es im 19. Jahrhundert entwickelt und in der Mitte des 20. Jahr-
hunderts kanonisiert wurde, ganz verabschieden? Bedenken muss man dabei
zunächst, dass auch dieses Modell nicht im luftleeren ahistorischen Raum
entstanden ist. Vielmehr war die wissenschaftliche Beschäftigung damit

16 Vgl. in diesem Sinn neuerdings z. B. WILHELM A. ECKHARDT, Die Heerschildordnung im
Sachsenspiegel und die Lehnspyramide in hessischen Urkunden, in: Hessisches Jahrbuch für
Landesgeschichte 54, 2004, S. 47-67.
17 Deutinger, Mehrfachvasallität (wie Anm. 10), bes. S. 82 und S. 105 zur Einschätzung als
»Entartung«.
18 Norberto Iblher Ritter von Greiffen, Die Lehenserbfolge in weiblicher Linie unter be-
sonderer Berücksichtigung der Libri feudorum (Europäische Hochschulschriften II, 946),
Lrankfurt/Main u. a. 1990; Hedwig Röckelein, De feudo femineo - Über das Weiberlehen,
in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst
Schubert zum Gedenken, hg. von Peter Aufgebauer/Christine van den Heuvel (Ver-
öffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 232),
Hannover 2006, S. 267-284.
19 Dirk Heirbaut, The fief-rente: a new evaluation based on Llemish sources (1000-1305), in:
Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 67,1999, S. 1-37.
 
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